Der Vogel des Jahres 2021 und seine besondere Beziehung zu Radebeul

Wie alljährlich bestimmt der Naturschutzbund Deutschland (NABU) einen „Vogel des Jahres“, um auf die Schönheit unserer Tierwelt und Probleme des Vogelschutzes aufmerksam zu machen. Dieses Jahr verlief die Wahl das erste Mal „demokratisch“, d.h. alle Interessierten konnten per Internet einen Vogel selbst wählen. Gewonnen hat – wenig überraschend – einer der volkstümlichsten, zutraulichsten und niedlichsten Vögel – das Rotkehlchen, übrigens mit 59.267 von über 455.000 Stimmen.
Was aber hat Radebeul speziell mit dem Rotkehlchen zu tun? Zwar gehört das Rotkehlchen zu den stetigen Wintergästen in den größeren Gärten und zählt zur Brutzeit – also zwischen März und August – zu den zehn häufigsten Vogelarten in den Wäldern bei Radebeul. Das Besondere ist aber, dass im geschichtsträchtigen, 1783 bis 1789 erbauten „Haus Sorgenfrei“ in der Oberlößnitz der Singvogelspezialist Rudolf Pätzold die erste deutschsprachige Artmonografie zum Rotkehlchen schrieb, welche in der bekannten „Neue-Brehm-Bücherei“ vier Auflagen erlebte. Der Radebeuler Ornithologe Rudolf Pätzold, welcher in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, hatte sich vor allem der Erforschung der Lerchen, einer großen Familie aus der Ordnung der Singvogel, verschrieben. Kurz vor seinem Tode konnte er 2003 sein Lebenswerk „Kompendium der Lerchen – Alle Lerchen dieser Erde“ noch beenden. Zeitlebens grämte er sich immer wieder, teils auch belustigt, darüber, dass er mit dem einen Buch über das Rotkehlchen viel mehr Menschen erreichte als mit seinen langwierigen Ausarbeitungen über die schlichten, unauffälligen und daher den meisten Menschen viel weniger bekannten Feld-, Hauben-, Heide-, Ohren- und unzähligen anderen Lerchenarten. „Die meisten Menschen wissen nicht den Unterschied zwischen „einer Lerche“ und „einer Lärche“, von der eine sehr große und schöne meinen Garten beschattet“, meinte er dann.

Foto: M. Schimkat

In diesem Garten des „Hauses Sorgenfrei“ hielt Rudolf Pätzold in großen Käfigen immer wieder die Vogelarten, über die er schrieb, um deren Wesen und Biologie möglichst genau zu erkunden. Vor allem war er jedoch in der Natur unterwegs, um Vögel zu beobachten und zu fotografieren. Während er aber solchen exotischen Lerchenarten wie Balkanohrenlerche und Wüstenläuferlerche bis in die Gebirge Bulgariens und in die Sahara folgen musste, konnte er seine „wilden“ Rotkehlchen zu Hause und in den Wäldern der Umgebung beobachten: „Es gibt keinen europäischen Vogel, der dem Menschen ohne Gewöhnung oder Zähmung in freier Natur so nahe kommt und ihn dabei ansieht. … Nicht selten erlebt der Gartenfreund, dass er beim Umgraben ein Rotkehlchen vor den Spaten lockt, das sich für die freigelegten Gliedertiere interessiert. … Die Größen der Reviere liegen in Mitteleuropa bei 0,7 ha. Das kleinste Revier stellte ich in meinem Gartenland mit 0,24 ha fest, das größte in der Dresdner Heide bei 1,0 ha.“ Mit „Revier“ bezeichnet der Ornithologe den Raum, den ein Singvogelpaar zur Brutzeit benötigt, um seine Brut aufzuziehen und den es gegen andere Singvögel der gleichen Art verteidigt. Rudolf Pätzolds besonderes Interesse galt der Brutbiologie der Singvögel, vom Beginn der Gesangsperiode (zur Revierbildung) bis zur erfolgreichen Aufzucht der zweiten Brut. So wurden viele Fakten zur Brutbiologie des Rotkehlchens in Radebeul und Dresden von ihm erforscht. „Das Lied des Rotkehlchens ist viel weniger bekannt als der Vogel, wohl deshalb, weil tagsüber sein Gesang im Chor der übrigen Sänger untergeht. Obwohl er sehr speziell ist und im Original mit anderen Vogelgesängen nicht verwechselt werden kann, prägt er sich dem Anfänger in der Vogelstimmenkunde nicht so leicht ein. Die rhythmisch betonteren Strophen von Zilpzalp, Buchfink, Goldammer oder Singdrossel werden von den meisten Teilnehmern vogelkundlicher Exkursionen viel schneller aufgenommen“. Der Gesang des Rotkehlchens startet mit einer Reihe hoher, feiner Töne und endet in einer Folge „tröpfelnder“, „perlender“ Elemente. Das klingt zuweilen etwas traurig oder wehmütig und ist – wenn auch seltener als im Frühling – auch im Herbst, Winter sowie nachts zu hören. Rudolf Pätzold und andere Ornithologen meinen, dass Beethovens Pastorale in der „Szene am Bach“ ein Motiv enthält, das dem Rotkehlchenlied abgelauscht sein könnte. Rudolf Pätzold stellte des Weiteren fest, dass den stärksten Einfluss auf das Gesangsvolumen (= Intensität + Umfang) das Dämmerungslicht am Morgen und am Abend ausübt. Das Rotkehlchen gehört deshalb mit Amsel, Singdrossel, Haus- und Gartenrotschwanz zur Gruppe der frühen (morgens) bzw. späten Dämmerungssänger. „Stark beeindruckend wirkte der Gesang, als zur totalen Sonnenfinsternis am 30.6.1954 die Dämmerung plötzlich in Tagesmitte hereinbrach und gleichzeitig die Rotkehlchen des Pillnitzer Schlossparkes bei Dresden ihr Gesangsmaximum entfalteten, das anhielt, bis die Sonne wieder uneingeschränkt schien.“
Genau wie kaum ein zweiter deutscher Ornithologe beobachtete Rudolf Pätzold die alljährliche Bildung und den Zusammenhalt der Paare des eigentlich eher ungeselligen und einzelgängerischen Rotkehlchens. „Der Phase der Paarbildung folgt gewöhnlich eine auffällig ruhigere zweite Epoche, die bis zu drei Tagen anhält. In dieser Zeit macht sich das Weibchen (♀) mit den Reviergrenzen vertraut. Das Männchen (♂) folgt ihm dabei in Abständen von 2-10 m. Überfliegt das ♀ die Grenzen, so wird es vom ♂ ins Revier zurückgeholt. In dieser Zeit singt das ♂ immer nur leise, ein Beweis, dass der laute Gesang vor der Paarbildung dem ♀ anzeigen soll, wo noch ein unverpaartes ♂ zu finden ist. Einige Fälle sind registriert, in denen das ♀ unmittelbar nach der Paarbildung wieder verschwand. Es folgt eine „Verlobungszeit“, in der die Partner sich gegenseitig fast ignorieren und in der das ♂ allmählich wieder zum lauten Gesang übergeht. Dass sich die Vögel dennoch als Paar fühlen, wird nur durch die Verteidigung des gleichen Reviers deutlich und dadurch, dass sie sich gegenseitig nicht befehden.“ Jedoch verlassen während der „Verlobungszeit“ schon 10 bis 20 % der ♀ das Revier und damit ihr Männchen. Rotkehlchen paaren sich gewöhnlich nicht für das ganze Leben, sondern nur für eine Brutsaison. „Wenn das Buschwindröschen blüht, beginnt das Rotkehlchen bei uns mit dem Nestbau. Dieser Zeitpunkt liegt im Dresdner Raum je nach Witterung und Höhenlage zwischen dem 5. und 20. April, durchschnittlich um den 16. dieses Monats. … Im Dresdner Raum wird das erste Ei in normalen Jahren um den 21. April gelegt und das volle Gelege ist entsprechend etwa am 26. dieses Monats zu finden. Das früheste volle Gelege errechnete ich 1974 um den 16. April bei einem Nest an den Radebeuler Weinberghängen bei Dresden. Späte Gelege der ersten Brut infolge ungünstiger Witterung sind hier noch bis Mitte Mai zu beobachten. In normalen Jahren handelt es sich dabei um Nachgelege. … Das Schlüpfen erfolgt im Dresdner Raum um den 10. Mai, in günstigen Jahren am 1.5 und nach langen Wintern noch bin zum 25. dieses Monats. Normalerweise sind zu diesem Zeitpunkt die jungen Amseln gerade flugfähig und der Löwenzahn steht fast in voller Blüte. Wie die meisten Singvögel, so schlüpfen auch die Rotkehlchen in der Mehrzahl in den Morgenstunden, gewöhnlich zwischen 5 und 9 Uhr.… In der Regel werden 2 Gelege im Jahr erbrütet, wobei die Eiablage für die zweite Brut etwa 55 bis 70 Tage nach der ersten erfolgt; im Dresdner Raum also Ende Juni bis Anfang Juli. Doch sind Augustbruten nicht sehr selten. Oft brütet das ? bereits wieder, wenn das ? noch die Jungen der ersten Brut füttert.“ Ob diese phänologischen Daten und Beziehungen, die Rudolf Pätzold vor fast einem halben Jahrhundert zusammenstellte, in der heutigen Zeit noch zutreffen?
Rotkehlchen sind in Deutschland sogenannte Teilzieher. Einige Vögel bleiben das gesamte Jahr über in unseren Breiten, andere ziehen kurze Strecken in wärmere Gefilde, weitere überwintern im Mittelmeerraum. Von den in Mitteleuropa verbleibenden Rotkehlchen sterben in normalen Wintern fast die Hälfte, in strengen Wintern bis zu 80 % und in außergewöhnlich harten Winterperioden kommen sogar fast alle zu Tode. Doch auch für die Zugvögel unter den Rotkehlchen lauern im südeuropäischen Winterquartier viele Gefahren. Schätzungen für Europa reichen bis zu über 100 Millionen Vögeln, die in Netzen, Fallen oder Käfigen den Tod finden oder geschossen werden. Das Rotkehlchen zählt dabei zu den häufigsten Opfern. So werden allein in Italien jedes Jahr zehntausende Rotkehlchen für den Kochtopf gefangen. Singvögel sind im Mittelmeerraum, im Nahen Osten und Nordafrika die Hauptbeute von Jägern und Vogelfängern. Manche Arten sind dabei fast überall jagdbar, dazu zählen neben Staren und Feldlerchen vor allem Drosseln wie Amsel, Sing-, Rot- und Wacholderdrosseln. Drosseln und Lerchen werden auch illegal mit Netzen gefangen, um sie als lebende Lockvögel bei der Jagd einzusetzen. Das Geschäft der legalen Jäger und der Wilderer hat sich leider in den vergangenen Jahrzehnten verändert und kommerzialisiert. Während früher viele für eine Mahlzeit im eigenen Haus auf die Jagd gingen und dies eine „alte Tradition“ war, verkaufen viele ihren Fang jetzt an Restaurants und an Vogelhändler.
Was kann man nun für den Schutz des Rotkehlchens und anderer Singvogel tun? Eine gute Möglichkeit ist natürlich die Mitarbeit oder zumindest Mitgliedschaft in einem Vogel- bzw. Umweltschutzverband. Verzichten Sie, wenn irgendwie möglich, auf die Haltung von Katzen, denn ein Großteil der Beute von Hauskatzen besteht aus boden- oder buschbrütenden Singvögeln wie dem Rotkehlchen. Schlecht ist auch ein zu intensiv gepflegter Garten mit asphaltierten Wegen und dem Einsatz von Insektiziden. In einem etwas unaufgeräumten, strukturreichen Garten fühlen sich Rotkehlchen wohl. Pflanzen Sie dichte Hecken oder vogelfreundliche Gehölze und lassen Sie den Efeu an der Hauswand wachsen, um diese hübschen Singvögeln einen Brutplatz zu bieten.
Quellen:
Pätzold, R. (1979): Das Rotkehlchen Erithacus rubecula. Die Neue Brehm-Bücherei 520. – A. Ziemsen Verlag, Wittenberg Lutherstadt
www.komitee.de
www.nabu.de

Dr. Jan Schimkat / Naturschutzbund Deutschland

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