Noch eine Glosse?

Meschugge

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Zeiten immer verrückter werden. Dass dieser Zustand aber offensichtlich schon einige hundert Jahre andauert, hat mich allerdings schon überrascht, wo doch immer von der guten alten Zeit gefaselt wird. Bereits im 19. Jahrhundert sah man sich genötigt, extra aus dem Hebräischen/Jiddischen ein spezielles Wort ins Deutsche zu übernehmen. Das Lehnwort „meschugge“, was so viel bedeutet wie „verrückt“, kam in Mode. Und wieder einmal war es Berlin, von wo aus sich diese Masche in den deutschen Landen verbreitete. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Ich weiß ja nicht, wie es gegenwärtig den werten Lesern so geht, mir aber dreht sich das „Rad der Geschichte“ einfach zu schnell. Dabei kann ich mich noch gut an die Zeit erinnern, als kein Handy klingelte, wenn ich von der Altstadtschule nach Haus kam. Auch musste ich nicht im Internet surfen, um meine Schularbeiten zu erledigen. Da dudelten höchstens auf Radio Luxemburg die neuesten Schlager und ich hatte genug Zeit, um mir mit meinen Freunden so manchen Blödsinn auszudenken oder wie man heute sagen würde, abzuhängen. Gegenwärtig müssen ja die Schüler ihre Kindheit überspringen, um möglichst frühzeitig fit für die Wirtschaft zu sein. In dem Zehnparteien-Haus in einer sächsischen Kleinstadt, in dem ich meine Jugend verbrachte, hatten zwei Familien einen Telefonapparat. Bis 1989 verbesserte sich die Lage kaum. Nur 16 Prozent der DDR-Haushalte besaßen einen entsprechenden Anschluss! Da haben wir eben die Oma öfters besucht oder eine Postkarte für 10 Pfennige geschrieben. Hat halt etwas länger gedauert. Ein Notfall war allerdings nicht eingeplant.
Bei Autos sah es deutlich besser aus. Immerhin verfügten 1988, dank der „Gehhilfe“, etwa 55 von 100 Haushalten über einen Personenkraftwagen. Heute besitzt statistisch gesehen jeder zweite Einwohner ein Auto! Mehr Zeit haben wir aber trotzdem nicht. Unsere Wohnungen sind vollgestopft mit gefühlt tausenden technischen Geräten, sogar die Zähne können wir uns nicht mehr selber putzen. Mitunter haben wir schon Schwierigkeiten, die technischen Wunderwerke an- und auszuschalten. Reparatur meist sinnlos. Da kaufen wir uns halt ein neues Gerät. Wir haben es ja – das zumindest glauben die meisten. Wer würde denn heute beim örtlichen Gemüsehändler noch loses Sauerkraut in einer Zeitungspapiertüte kaufen? Dabei enthalten die meisten der heute in Europe hergestellten Bogenoffset-Druckfarben weder Mineralöle noch Schwermetalle! Selbst wenn ein Kleinkind den Leitartikel der Sächsischen Zeitung „verspeisen“ würde, muss niemand in Panik ausbrechen.
Was mich aber wirklich meschugge macht, ist die ständige Hatz nach den Dingen, die Gier nach neuen Amüsements, die permanente Anmache, irgendetwas zu supergünstigen Bedingungen erwerben zu sollen, unbedingt irgendwo dabei sein zu müssen, etwas mitzumachen, ständig seine Meinung kundzutun, die neurotische Angst, zu spät zu kommen, irgendetwas zu verpassen, nicht mehr „in zu sein“. Wir sind technisch hochgerüstet, aber beim Psychologen in Behandlung. Die Supermärkte und Discounter laufen über, aber viele Menschen haben eine Essstörung.
Was ist denn da im Oberstübchen nicht mehr richtig? Insgesamt 33,3 Prozent der weiblichen und 22,0 Prozent der männlichen Bevölkerung leiden an psychischen Erkrankungen! Die Krankschreibungen auf diesem Gebiet sind seit 2006 um 50 Prozent gestiegen! Die „Depressive Episode“ ist zur dritthäufigsten Einzeldiagnose in den letzten 20 Jahren aufgestiegen und die diesbezüglichen Erkrankungen unter den Kindern und Jugendlichen haben um 24 Prozent zugenommen!
Wer dreht denn hier fortwährend am Rad? Woher kommt denn diese Unruhe, diese Hatz, der Leistungsdruck, der Zwang zur permanenten Selbstoptimierung, die Auffassung, ständig erreichbar sein zu müssen, selbst beim Toilettengang?! Mancher Erdenbürger meint gar sein Handy oder iPhone nie mehr weglegen zu können. Da bildet sich dann auch beim allgemeinen Schreibtischarbeiter wieder die typische gekrümmte Arbeiterhand aus. Es gibt Arbeitsstellen, die sich herausnehmen, noch bis 22 Uhr(!) den Dienstplan für den nächsten Tag per Mail durchzugeben! Liegt es vielleicht nicht nur an den abhängigen Angestellten oder den willfährigen Konsumenten? Kann es sein, dass die ganze Gesellschaft, der gierige Neoliberalismus, am Rade dreht?
In meiner Kindheit war kein Schüler beim Psychologen und meschugge hat uns auch keiner gemacht. Da will ich mal hoffen, dass die Sprachwissenschaftler recht behalten und es sich bei dieser bezeichneten Situation „verrückt zu sein“ nur um „einen vorübergehenden Zustand“ handelt. Denn in der Ruhe liegt die Kraft, meint

Euer Motzi

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