Eine persönliche Zeitreise ins Jahr 1963 – oder Aktennummer S 14.12

Hätten Sie, liebe Leserin und Leser, gewusst, was Sie vor fast 60 Jahren für Spuren in Radebeul hinterlassen haben? Ja, das ist eine schwierige Frage. Zu dem Zeitpunkt war ich Schüler an einer „höheren Töchterschule“, genauer gesagt der Radebeuler EOS (Erweiterte Oberschule) und ich erinnerte mich jetzt, dass ich damals mit einer Jahresarbeit, heute würde man vielleicht von Projektarbeit sprechen, beschäftigt war, die mir sogar Spaß gemacht haben dürfte, aber meine Erinnerungen daran waren eher schwach. Im Frühjahr 2022 fragte ich im Radebeuler Stadtarchiv an und siehe da …!

Deckblatt der Schülerarbeit


1963, da stand die Mauer in Deutschland schon zwei Jahre und ich ging in die 11. Klasse, waren wir mit einer Jahresarbeit beschäftigt. Das Thema konnte man sich selbst aussuchen, es sollte am besten für mehrere Fächer übergreifend sein, man musste es dem Klassenlehrer vorstellen und bestätigen lassen, dann konnte man loslegen. Ich hatte mich für das Thema „Städtebauliche Entwicklung der Stadt Radebeul“ entschieden, was die Fächer Geschichte, Geografie und Kunsterziehung berührte. Da hieß es erst mal Fakten sammeln. Es fing mit Besuchen im damaligen Stadtarchiv bei Herrn Paul Brüll an, dann waren Gespräche mit Fachleuten im Bauwesen und in der Stadtverwaltung nötig und Fotostreifzüge mit dem Rad durch Radebeul – alles neben der normalen Arbeit in der Schule. Die Faktensammlung und meine Schlussfolgerungen daraus wuchsen, als ich abgeben konnte, waren es 25 Blatt A4. Ich glaube, die Arbeit wurde mit einer „2“ bewertet. Genau weiß ich das nicht, denn das Original blieb in der Schule und existiert nicht mehr. Aber ich hatte ja auf eine Bitte von Herrn Brüll ein Duplikat meiner Arbeit im Stadtarchiv abgegeben. An dieser Stelle möchte ich ein Lob an das Radebeuler Stadtarchiv loswerden: ich hätte nicht gedacht, dass bei sicherlich viel höheren Prioritäten in dieser Einrichtung etwas so Nebensächliches wie eine Schülerarbeit unter der Registrierung S 14.12 so lange verwahrt und dann auch noch sofort gefunden würde, Dank dafür!

Wohnblock in Serkowitz


Nun liegt vor mir eine Kopie des Archivexemplars und ich überlege, wie ich das Thema heute, wenn es denn gefordert würde, bearbeitet hätte. Beim Durchlesen hatte ich tatsächlich so etwas wie ein Wechselbad der Gefühle. Da findet man doch Vieles, was heute durchaus noch Gültigkeit hat, da hatte der Schüler einiges richtig erkannt. Die Topografie, die Geologie und Bodenverhältnisse, die 10 Dörfer, die über die Jahrhunderte langsam zusammenwuchsen, all das sind gültige Fakten. Bei den Kapiteln Klima und Landwirtschaft erkennt man schon eine Entwicklung zu 1963 – damals wurde Radebeul als sächsisches Nizza bezeichnet, heute könnte man fast von sächsischer Sahara sprechen. Damals glaubte man an Wachstum, also dass die Einwohnerzahl kontinuierlich steigen würde – aber schon einige Jahre stehen wir bei 33 bis 34 000 Einwohnern. Der Schüler erkannte auch, dass Radebeul keine Stadt im klassischen Sinn ist, sondern aus einem Konglomerat von Dörfern entstanden ist, was das Fehlen eines ursprünglichen Rathauses, eines zentralen Marktplatzes und von Stadtmauern zeigt. Stattdessen stehen unsere Mauern in den Weinbergen. Das Fehlen eines Stadtzentrums wollte der eifrige Schüler künftig durch die städtebauliche Entwicklung der Stadtmitte kompensieren (zu dem Zeitpunkt entstanden, glaube ich, die ersten Hochhäuser in Frankfurt am Main). So weit, so gut, aber muss es gleich ein solches Hochhaus neben dem Lößnitzbach und dem „Weißen Roß“ sein? Den Ansatz hatte nach 1990 ein westlicher Berater in der Stadtverwaltung Radebeul auch gehabt, als dann die Sparkasse, die AOK und noch ein Gebäude entstanden.

Blick vom »Weißen Roß« auf das künftige Zentrum


Es ist noch nicht so lange her, da hat man das höhere Haus von „Glasinvest“ wieder abgerissen. Andere Ideen sind dann aber Wirklichkeit geworden, wie eine S-Bahn durch Radebeul. Bei weit weniger Autos als heute (gut, ein paar Trabis, Wartburgs, Skodas und Moskwitschs gabs schon) fiel diesem Schüler schon auf, dass sich der Verkehr in der Längsachse Radebeuls nicht flüssig genug bewegte. Er meinte, dass mit einer neuen Elbtalstrasse dieses Problem zu lösen sei. Aber das Problem war bisher kaum zu lösen – wären weniger Autos vielleicht die Lösung? Fassen wir zusammen: mit der Analyse des Bestandes klappte es in seiner Arbeit besser als mit dem Ausblick! Na und von Radebeul als künftiger sozialistischer Stadt träumt heute auch keiner mehr.

Der Verfasser 1963


Die vielen Schwarz-Weiß-Fotos sind heute wichtige Zeitdokumente und geben den Charakter Radebeuls recht gut wieder. Dagegen sind die Skizzen des Schülers zwar informativ, zeigen aber noch eine kindliche Federführung, eben verbesserungswürdig.

Ach ja, im Vorwort fiel mir ein folgenschwerer Satz auf – ich wolle meine eigenen Pläne als künftiger Bauingenieur oder Architekt gern mit dem Wohl der Stadt Radebeul verbinden. Da war offenbar mein erster Berufswunsch als Oberförster schon vom Tisch! Der Satz war dann 1991 noch ein bisschen wahr geworden, als ich bis 2009 Verantwortung für die Radebeuler Kulturdenkmale übernehmen durfte.


Dietrich Lohse

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