400 Jahre Haus Möbius
III
Donnerwetter! Haus und Verstand
Tethys, Schwester und Gattin des alten Meergottes Okeanus, hat als „Geosynklinalmeer“ ihre Mittlerrolle genutzt und seit dem beginnenden Erdmittelalter mächtige Schichten bedeutender Sedimente abgelagert. Zwischenzeitliche Faltungen haben die Schichtungen in abenteuerliche Höhen geschoben; und nicht wenige Menschen glauben immer noch, dies alles sei unsretwegen geschehen. Die Annahme ist insofern nicht ganz von der Hand zu weisen, als der Boden unter unseren Füßen zu guten Teilen von der Göttergattin vorbereitet worden ist.
Mit solcherlei Gedanken spielend, halte ich mein Glas länger als zum Trinken nötig in der Luft.
Sieh mal, hier, sage ich dann. Ich greife hinter mich ins Fensterbrett und ziehe einen beigefarben schimmernden Stein hervor, ein knappes halbes Pfund schwer, länglich mit angedeuteter geschliffener Schneide und überhaupt im Ganzen künstlich in Form gebracht.
Sieht aus wien Steinbeil, sagt Ulrike mäßig interessiert.
Ja, sag ich, ist aber keins, ist eine Fälschung.
Wie jetzt? Ulrike schaut ungläubig.
Es war einmal …, beginne ich, da waren die Menschen noch sehr ungebildet. Ich weiß, die Zeit ist noch nicht vorbei, aber als der selige Aegidius Strauch das Haus baute, wars fast noch schlimmer. Damals jedenfalls lagen auf den fruchtbaren Lößäckern viele Steinbeile umher, die noch aus der Zeit stammten, als die ersten Siedler vom Goldenen Halbmond her genau diese Böden suchten. Unsere unmittelbaren Vorfahren jedenfalls wußten mit den Dingern nicht viel anzufangen, bis im späten Mittelalter findige Händler darauf kamen, die steinzeitlichen Artefakte zu Donnerkeilen zu erklären und als Blitzschutz zu verkaufen. Die ängstlichen Hausbesitzer, ohnehin schon vom Krieg verunsichert, haben sie dann unter der Schwelle vergraben oder im Dachgebälk aufgehängt. Und wenn sie keine fanden, nun dann haben die fliegenden Händler selber welche gemacht. Und das hier, sage ich, und wiege den Stein in der Hand, ist genau so ein Exemplar. Der Stein, es ist ein Pläner aus dem Plauenschen Grund – ein später Gruß der Tethys – ist seit tausend Jahren als Baumaterial beliebt, aber für ein Werkzeug viel zu weich.
Aber – das ist ja Betrug, stöhnt Ulrike.
Doppelter Betrug sogar, sage ich, hat aber funktioniert. „Alternative Fakten“ haben zu allen Zeiten gezogen, und derartige Scharlatane rennen uns ja immer noch die Türen ein. Der sogenannte „gesunde
Menschenverstand“ ist bis heute dünn gesät auf der Welt, aber wenn einer damit käme, wollte ihn keiner haben…
Der falsche Donnerkeil dürfte damals jedenfalls schon das Pressenhaus „geschützt“ haben – ich fand ihn ohne Zusammenhang mit der derzeitigen Bebauung beim Ausschachten des Fundamentes für unsern Schornstein. Die Angst vor Gewittern war bei den wenigen Häusern damals natürlich viel größer – heute hätte so ein Blitz deutlich mehr Auswahl …
Und woher weißt du das mit dem Pläner?
Unser Nachbar von Gegenüber, der Herr Lange, ist Geologie-Professor und kennt sich da aus. Er steht sozusagen mit Tethys auf du und du. Ich hab ihm den Stein mal mitgegeben.
Du hast das Ding aus der Hand gegeben?
Na klar, wie soll ers denn sonst bestimmen? Er hatte es nur zwei Tage, außerdem war Januar, da ist die Gefahr von Blitzschlägen naturgemäß eher gering – ich bin also kein Risiko eingegangen …
Jetzt ist es Ulrike, die zum Weinglas greift …
Thomas Gerlach