Abflughafen Radebeul-Mitte

Spielzeitauftakt zu „Last Call“ Foto: R. Jungnickel

Zum Spielzeitauftakt „Last Call“ an den Landesbühnen am 14.10.2023

Nachdem die Landesbühnen Sachsen erstmals in der Spielzeit 2009/10 mit dem „Umbrüche“-Projekt den Versuch unternommen hatten, an einem Abend mehrere Stücke parallel auf drei Zeitschienen anzubieten, sie dieses Format 2014/15 und 2015/16 unter dem Motto „Irrtümer“ fortgesetzt hatten, trommelten sie jüngst zur Spielzeiteröffnung 2023/24 mit „Last Call“ die Theaterenthusiasten nach Radebeul-Mitte, um ein vergleichbares Projekt zu stemmen. Man mag darüber streiten, ob die Fülle an Angeboten wirklich nötig ist, um die beachtliche Vielfalt des Repertoires des Mehrspartenhauses unter Beweis zu stellen. Die Struktur des Abends sieht vor, dass sich die Besucher zuerst auf vier Stücke verteilen, sich danach alle im Großen Saal einfinden, sie sich abermals trennen um schließlich zur vierten Aufführung wiederum im Großen Saal zusammenzukommen. Insgesamt gibt es sieben verschiedene „Gates“, an den sich die „Passagiere“ einfinden können (ein Lob für die pfiffigen „Bordkarten“, also die Programmzettel). Intendant Manuel Schöbel möchte den Spielzeitauftakt als eine Einladung ins Theater verstanden wissen, „in eine zauberhafte Welt, eine Welt der tausend Möglichkeiten, an einen Ort, an dem Träume wahr werden, wo alles möglich erscheint“. Der Theaterdirektor aus Goethes „Faust“ mag hierbei insgeheim Pate gestanden haben, denn „wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“. Hinzu kommt, dass die Landesbühnen seit 2022 ihr Leitungsteam personell neu aufgestellt haben und demzufolge Kai Anne Schuhmacher (Operndirektorin), Natalie Wagner (Leiterin der Tanzcompagnie und Chefchoreografin) sowie Jan Meyer (Oberspielleiter Schauspiel) zusammen mit Intendant und Chefdramaturgin Dr. Ruth Heynen einen solch opulent ausgestatteten Abend verantworten und sich damit en bloc zusammen mit ihren Ensembles dem Publikum präsentieren können.
Manuel Schöbel erklärt im Jahresspielplanheft den auf den ersten Blick befremdlich anmutenden Titel „Last Call“ mit dem Hinweis auf einen „letzten Aufruf“ (wie vor dem Abflug eines Flugzeuges) an das Publikum, gemeinsam Gefährdungsszenarien unserer Zeit auf ihre Relevanz für uns im Jetzt und Hier zu befragen. Die vier von mir besuchten Stücke beziehen sich in ganz unterschiedlicher Weise auf diesen Ansatz und vermochten nur teilweise die Erwartungen zu erfüllen. „Atmen“, ein Zweipersonenstück von Duncan Macmillan, hatte bereits im April 2022 Premiere und gehört seither zum Repertoire (Regie: Moritz Gabriel). Julia Rani und Grian Duisberg stehen für schauspielerische Exzellenz und loten in dem 75 Minuten dauernden Kammerspiel Höhen und Tiefen einer Paarbeziehung aus. Ihr intensives Spiel zieht in den Bann und eröffnet eine sehr private, geradezu intime Perspektive auf den „last call“. Wie geht verantwortungsvolle Familienplanung heute angesichts Klimakrise und Überbevölkerung? Sollten die 10000 Tonnen CO², die ein Mensch im Laufe seines Lebens durchschnittlich verursacht, ein Grund dafür sein lieber kinderlos bleiben zu wollen? Ist der altruistische Gedanke, der Erderwärmung nicht auch noch durch Fortpflanzung Vorschub zu leisten, nicht am Ende nur eine egoistische Geste, die auf die eigene Komfortzone verweist? Das Stück, welches bis kurz vor Ende zwischen Aufgabe des und Hingabe an den Partner schwankt, endet versöhnlich.
Als eine von insgesamt vier Uraufführungen (!) an diesem Abend konnte das Publikum eine Komposition von Hans-Peter Preu erleben, dessen „Letzte Rufe aussterbender Arten“ als eine „Kantate über die Zukunft der Lebewesen auf diesem Planeten“ untertitelt ist, worunter auch der Mensch selbst als gefährdete Art fällt. Dieses Stück (Künstlerische Leitung: Tine Josch; Musikalische Leitung: Karl Bernewitz; Choreografie: Natalie Wagner) folgt einer ungewöhnlichen Grundidee: Textpassagen von der Bibel bis hin zur Gegenwart, die jeweils auf das Entstehen und Verschwinden von Lebewesen bezogen sind, vertonte Preu auf musikalisch sehr heterogene Weise und schafft eine von Tänzern illustrierte Klangwelt. Wird etwa der Entstehung der Welt mit Texten aus der Genesis ein mystisches musikalisches Gewand umgelegt (hier kommt ein Duduk genanntes Instrument zum Einsatz), erklingt wenig später eine die Werbeindustrie persiflierende tanzbare Nummer im Stil der 1920er, in der man nach Eberswalde zum „Friedhof der ausgestorbenen Tiere“ eingeladen wird. Die abwechslungsreiche musikalische und textliche Gestaltung verlangt dem Opernchor, den beiden Musikern (Hans Peter Preu am Klavier, Stephan Pankow an der Gitarre) und vor allem dem Publikum einiges ab. Wer nicht bibelfest ist wird sich fragen, was die neutestamentarische Erzählung über Lazarus damit zu tun hat, dass der neuseeländische Takahe (eine Vogelart) doch nicht ausgestorben ist… Etwas unklar bleibt die Rolle der Schauspielerin, die an diesem Abend von Dörte Dreger verkörpert wurde. Nachvollziehbar ist der Ansatz, dass sie das Geschehen durch ausgewählte Texte kommentiert. Warum sie dabei aber manchmal abliest, manchmal rezitiert, manchmal am Rand sitzt, sich dann wieder geisterhaft zwischen den Choristen durchschiebt wird nicht plausibel, sondern lenkt vom musikalischen und tänzerischen Geschehen ab. Insgesamt aber ist Preus Komposition ein mutiger und gelungener Versuch, einen „letzten Aufruf“ in die Welt zu schicken, sich für die Bewahrung der Schöpfung einzusetzen.
Mit dem Hinweis auf eine „schräge“ Darbietung entließ mich ein mir bekannter Mitarbeiter der Landesbühnen dann in die Studiobühne, wo mit „Eight songs for a mad king“ (Inszenierung: Kai Anne Schuhmacher) ein avantgardistisches Monodram des britischen Komponisten Peter Maxwell Davies aus dem Jahr 1969 auf dem Programm stand. Tatsächlich kommt diese gut halbstündige Performance als akustische Herausforderung daher, weil Andreas Petzoldt als König Georg III. die ganze ihm zur Verfügung stehende Skala an Tönen und Lauten ausschöpfen muss, um den von Wahnsinn heimgesuchten Regenten, der sich mit Vögeln unterhält, zu verkörpern. Das kleine Orchester unter Leitung von Karl Bernewitz muss damit leben, weniger Harmonie als vielmehr Kakofonie hervorbringen zu müssen, was die Hörgewohnheiten des Publikums auf die Probe stellt. Erfreulicherweise bot Dramaturgin Gisela Zürner nach der Aufführung ein kurzes Nachgespräch an, um Hintergründe dieser bereits in der Spielzeit 2022/23 produzierten Inszenierung auszuloten. Keineswegs ist es als ironischer Kommentar bezüglich der Tatsache zu deuten, dass mit König Charles III. erstmals seit 70 Jahren wieder ein männlicher Herrscher der britischen Monarchie vorsteht. Stattdessen soll auf das Problem aufmerksam gemacht werden, dass Machthaber, die nicht mehr Herr ihrer Sinne sind, womöglich nicht nur ein historisches Phänomen, sondern auch in der Gegenwart anzutreffen sind und also die Existenz von Menschen und Völkern gefährden.
Der Abend, der unterdessen mehr als eine halbe Stunde Verzögerung zum eigentlich vorgesehenen Zeitplan aufwies, wurde ab 22.20 Uhr mit der Groteske von G.A. Beckmann „Die große Reblauskatastrophe“ beschlossen. Dieses Stück in der Regie von Jan Meyer ist ein Auftragswerk und soll einen „wilden und trashigen Ritt durch die sächsische Geschichte“ (Programmheft) vermitteln. Diesen Ritt empfand der Großteil des Publikums allerdings als ziemlich holprig, denn abgesehen von Ausnahmen regten sich die Hände zum Applaus nur zögerlich und gingen die meisten mit Fragezeichen aus dem Saal. Die Grundidee, mehrere Zeitebenen von Sachsens Geschichte (im Stück als „Saxon Wonderland“ bezeichnet) ineinander zu blenden und die religiösen Konflikte des 30-jährigen Krieges mit der Reblauskatastrophe des späten 19. Jahrhunderts und den gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen in eine Story zu bringen trägt nicht und wirkt bemüht. Die Figuren bleiben in ihrer Funktion und Motivation weitgehend unklar und bevölkern eine Bühne, auf der am Ende eine Atombombe durch Prof. Dr. Rotbart Stockenheimer (lies: Robert Oppenheimer) alle Probleme löst. Natürlich weitet die Genrebezeichnung „Groteske“ die akzeptabel empfundenen Stilmittel aus, aber ob man mit dem Entsetzen so Scherz treiben sollte möchte ich bezweifeln – noch dazu in unserer durch ganz reale Kriegsereignisse so gefährdeten Zeit. Ebenso ist es zu hinterfragen, ob es – wie gesprächsweise vernommen – eine gute Idee ist, dieses Stück in Settings wie der Hoflößnitz aufzuführen, also in einer intakten Kulturlandschaft, deren Bewahrung und Pflege den Radebeulern seit Generationen Herzensanliegen ist und denen man also darauf bezogene „letzte Aufrufe“ nicht mit dem Holzhammer in der Hand entgegenbrüllen muss.
Was also bleibt vom Spielzeitauftakt an den Landesbühnen? Ein großer Dank an die vielen Mitwirkenden aus allen Bereichen, die mit Liebe zum Detail an allen Ecken und Enden des Hauses Anreize setzten, sich willkommen zu fühlen (u.a. Gaukler vor dem Eingang, Musiker am Wunschklavier, „Fluglotsen“ in Person von Schülern aus dem Jungen Studio der Landesbühnen, Vertreter einer Blumensamenbank draußen im Hof). Respekt für die künstlerische Potenz des Hauses, dessen konzeptionelle, personelle, räumliche und technische Ressourcen ein Segen für Radebeul und die Theaterlandschaft in ganz Sachsen sind. Es ist mehr als erstaunlich, dass man sich einen Kraftakt wie „Last Call“ gleich fünfmal zugemutet hat (nicht nur am 14.10., sondern überdies vom 19.-22.10.) Leise Zweifel, ob man nicht das Publikum kräftemäßig mit einem mehr als fünfstündigen Programm überfordert, ohne dass zwischendrin ausreichend Zeit für ein Getränk oder einen Imbiss ist – die Schlangen am dünn besetzten Tresen waren lang, die Getränke durften nicht mit zu den Spielstätten genommen werden. Große Zweifel, ob wirklich alle Inszenierungen dem Anspruch gerecht werden, einen sinnstiftenden Beitrag zum Motto des Abends zu leisten. Vielleicht wären weniger Abflüge mit dafür größeren Maschinen ja doch besser gewesen.
Bertram Kazmirowski

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