Meine Mutter, Christa Stenzel, geborene Stiller, wuchs mit ihren Geschwistern Wolfgang und Jutta im „Weißen Roß“ auf. Ihre Eltern Maja und Kurt Stiller waren die letzten privaten Betreiber der bekannten Gaststätte in Radebeul-Mitte. 1959 mussten sie unter staatlichem Zwang den Betrieb an die HO verpachten. So endete nach hundert Jahren und vier Generationen die Geschichte eines traditionellen Ausflugslokals.
Wie gesagt, verbrachte meine Mutter in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine unbeschwerte Kindheit in dem ehrwürdigen Haus. Sie hinterließ mir ihre Erinnerungen, welche sie als monatliche Streifzüge durch ein Kindheitsjahr gestaltete und die als zeithistorisch und voller Lokalkolorit ich den Lesern der „Vorschau“ nicht vorenthalten möchte.
So lassen wir denn diese zwölf Monate in loser Reihenfolge an uns vorüberziehen und ich hoffe, dass sie Ihnen ebenso viel Vergnügen bereiten wie mir, zumal sie für ältere Leser viel Wiedererkennungswert und für jüngere einen neuen Blick auf die damalige Zeit beinhalten.
Der August
Es war auch immer ein Ereignis, wenn wir mal zu Heyls Großeltern nach Buchholz durften. Hinzu fuhren wir mit der Kleinbahn, wie ich mich erinnern kann, heimzu wurde meistens gelaufen, wahrscheinlich weil kein passender Zug fuhr, übers Spittelholz und Jägerhofstraße. Günthers hatten ein kleines Häuschen mit einer Veranda dran, in der gegessen wurde. Oben war noch ein Zimmerchen draufgebaut, das von außen über eine Holztreppe und Dach zu erreichen war. Dort schliefen Inge und ich, für mich eine tolle Sache. Der Garten war wie eine kleine Plantage, Opa Günther baute viel Erdbeeren auf dem sandigen Boden an. Oma Günther stellte uns eine große Schüssel mit gezuckerten Erdbeeren auf den Tisch, die mit Milch gegessen wurden. Der Erdbeername „Mieze Schindler“ wurde mir damals zu Begriff. Es war lecker. Über dem Weg war eine große Sandkuhle, in der man prima die Hänge herunterrutschen konnte. Von da ging eine Röhre unter der Straße weg, durch die wir auch gerne krochen. Einmal nahm uns Opa Günther mit in die Pilze und wir fanden in den dichten Kiefernschonungen viele Pfifferlinge, die Oma Günther dann zu Mittagessen briet. Heute ist dort vieles zugebaut. Im August war auch die Zeit der Kornäpfel, eine frühe Sorte, die sich nicht zum Aufheben eignete. Wir aßen die saftigen Äpfel, bis uns der Bauch weh tat. Der Baum stand an der Laube, die wir mittels Leiter bestiegen und waren quasi mittendrin im Apfelparadies. Wenn die Kornäpfel überreif waren, war das Kerngehäuse voller Saft.
Im August war die Olympiade in Berlin. Wir Kinder hatten keine rechte Vorstellung, aber die Erwachsenen waren mächtig aufgeregt, denn der Fackelträger auf der Etappe von Athen nach Berlin kam durch Radebeul auf der Meißner Straße. Lippmanns und Wellers (Anm. Familienzweig aus Saron/Pal.) waren extra aus Palästina angereist, mit dem Auto durch den Balkan. Die kleine Irene war noch ein Baby und machte die lange Reise in einer Hängematte mit, die durch das Auto gespannt war. Onkel Fritz und Onkel Rudolf fuhren weiter nach Berlin, während die Familien im „Weißen Roß“ blieben. Ich kann mich noch erinnern, dass Vater längs des Zaunes im Grasgarten Stühle aufstellen ließ. Der Grasgarten liegt etwas höher als die Straße, ein kleiner Abhang grenzt am Zaun. Und dies war mit das Verhängnis. Ingrid und ich, wie schon erwähnt etwa gleichaltrig, saßen zwischen unseren Müttern und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Ingrid hatte ausgerechnet einen Klappstuhl aus der Laube erwischt, der bei unsachgemäßer Verlagerung des Körpergewichtes sofort unter einem zusammenklappte. Als nun die Rufe ertönten „er kommt, er kommt“, nämlich der Fackelträger, beugte sich Ingrid interessiert nach vorn und als der Sportler in etwa auf unserer Höhe war, flog Ingrid mitsamt dem zusammenklappenden Stuhl hinunter an den Zaun. Unsere Mütter haben von diesem großen Ereignis leider nicht viel mitbekommen, denn sie mussten die schreiende Ingrid bergen. Opa konnte aber mit der 6×9 Box den Fackelläufer auf dem Foto festhalten. Das ist meine einzige Erinnerung an die Olympiade 1936.
Wir hatten noch das große Glück, etwa sagen wir ländlich aufzuwachsen. Dazu gehörten auch Nollaus Pferde, Bubi und Hanne, zwei ruhige Kaltblüter. Vater Nollau betrieb mit seinen Söhnen Arno und Paul ein Fuhrgeschäft. Der jüngste Sohn Erhard lernte Fleischer in Lindenau. Im Hof hinten links war der Stall, wo wir gerne auf der Futterkiste saßen. Im Hof vor der Rolle, der Raum mit der prähistorischen Wäschemangel, stand der große Planwagen, unter dem gern die Katzen spielten. Ich kann mich noch dunkel erinnern, dass uns Arno und Paul einmal mitnahmen, als sie die Pferde an die Elbe zur Schwemme ritten. Nollaus fuhren auch für die Gummifabrik an der Ecke Dresdner Straße/Seestraße, kurz die Gummibude genannte. Manchmal brachten sie von dort einen Sack mit aussortierten bunten Bällen mit und wir durften uns welche aussuchen. Leider währte die Freude immer nur kurz, weil Paul und Arno mit den Fahrern von Bischoffs sämtliche Bälle zerbebbelten. Wolfgang wurde viel von Tante Paule Bischoff betreut, er war gerne hinten in dem kleinen Büro, während ich lieber bei Urgroßmutter Pauline auf dem Schoß saß.
Dies soll es für den August gewesen sein.
Christa Stenzel
Ein Kommentar
Danke für diesen schönen Beitrag und bitte mehr davon.
Eine völlig neue Erkenntnis für mich, dass der Fackellauf der Berliner Spiele durch Radebeul führte.
Das habe ich noch nie gehört, man lernt eben nie aus.
Ob das Stadtarchiv dazu ein Bild hat??