Radebeuler Begegnungen 2010. Eine nicht ganz ernst gemeinte Nachbetrachtung

Wann, wo und durch wen die Idee zu den »Radebeuler Begegnungen« geboren wurde, wird ganz verschieden kolportiert. Deshalb sei die authentische Version an den Anfang des Beitrages gesetzt, und die lautet so: Die Wahnsdorfer hatten im Jahr 2000 die Stadtgalerie und deren Malgemeinschaft auf den Berg gelockt, in der Absicht, sie zu einem Beitrag zum Programm der 650-Jahr-Feier zu bewegen. Auch der Naundorfer Dorf- und Schulverein war dort seit längerer Zeit zugange und leistete mit Isolde Klemmt an der Spitze praktische und logistische Hilfestellung, vor allem bei der Ausgestaltung des Festumzuges. Das Fest war wunderschön und als es zu Ende ging, saßen drei Personen noch einmal in fröhlicher Runde zusammen: der Vorsitzende des Heimatvereins Wahnsdorf, die Vorsitzende des Dorf- und Schulvereins Radebeul-Naundorf und die Leiterin der Stadtgalerie. Man war sich einig, dass man sich nicht wieder aus den Augen verlieren sollte und weitere Gelegenheiten geschaffen werden müssten, bei denen sich die Bewohner der Radebeuler Ursprungsgemeinden begegnen und besser kennen lernen können. Gesagt, getan – bereits im Folgejahr startete die erste »Radebeuler Begegnung« von Altkötzschenbroda nach Wahnsdorf. Als fachkundiger Wegbegleiter wurde der Freizeithistoriker Hans-Georg Staudte gewonnen. Seitdem fanden vier Begegnungen in loser Folge statt, die sich bis heute ungebrochener Beliebtheit erfreuen.

Die fünfte Begegnung startete am 21. August am Endpunkt der vorigen, in Alt-Zitzschewig. Gut 130 erwartungsfrohe Teilnehmer hatten sich versammelt, und bevor man zur 9 km langen Entdeckungstour aufbrach, wurde ein stärkender Imbiss gereicht, mit dem die Zitzschewiger einmal mehr unter Beweis stellten, was sie für vorzügliche Gastgeber sind. Als sich der lange Menschenzug um 11 Uhr in Bewegung setzte, stand keine Wolke am Himmel. Die Sonne schien unerbittlich und eine erste Ahnung beschlich die Expeditionsteilnehmer, was im Laufe des Tages auf sie zukommen würde, wenn die Temperaturen wie angekündigt die 30 Grad Marke übersteigen sollten.

Bis zur ersten Zwischenstation in Naundorf aber war es nicht weit. Eine Ausstellung bot Schnappschüsse vom letzten festlichen Dorfereignis, das im Zeichen des Radebeuler Stadtgeburtstages stand. Sehens- und Wissenswertes erwartete die Expeditionsteilnehmer auch an allen folgenden Stationen und zwischendurch. Hans-Georg Staudte wurde nicht müde, ortsgeschichtliche Zusammenhänge sehr anschaulich und für jedermann nachvollziehbar zu erklären.

Wenig bekannte Verbindungswege durch Gartenanlagen, Wiesen und Felder ohne störenden Autoverkehr führten von Zitzschewig über Naundorf, Altkötzschenbroda, Fürstenhain und Serkowitz nach Radebeul. Verfallende Industriebauten, preisgekrönte moderne Architektur, sanierte Dorfkerne, versiegelte Parkflächen, kleinteilige Intensivbewirtschaftung, hochwasserschutzbedrohte Gartenparadiese und Wirkungsstätten bedeutender Persönlichkeiten säumten den Weg.

Auf halber Strecke wurde Rast gemacht. Der Garten von Familie Freier bot Schatten, Ruhe und Erfrischung. Ob Hochsitz, Gartenbank, Hängematte, Sitzecke oder Wiese pur, für jeden fand sich ein idyllischer Platz, denn die Muse wird hier phantasievoll zelebriert.

Die Übergabe des Staffelstabes ist ein kurioses Kapitel für sich. Das Original war seit der letzten Begegnung verschwunden und wurde von den Zitzschewigern sehr frei nachempfunden. Die Übergabe des Ersatzstaffelstabes wiederum erfolgte aus verkehrstaktischen und klimatischen Beweggründen schon kurz vor der Radebeuler Gemeindegrenze auf Serkowitzer Flur. Die Delegation der Radebeuler Abgesandten war bunt gemischt. Sie setzte sich zusammen aus Geschäftsleuten, Alt- und Neubürgern, Mitgliedern von Vereinen, Vertretern der Ortsteilfeuerwehr und von Kultureinrichtungen. An deren Spitze stand der Oberbürgermeister, welcher – nicht nur zur Verblüffung der Zitzschewiger – die Entgegennahme des Staffelstabes spontan an den frisch gekürten sachkundigen Einwohner für Kultur und Tourismus, Uwe Wittig, weiterdelegierte, der sich jedoch als Lindenauer outete. Die tiefergehende Symbolik dieser Aktion erschloss sich nur jenen, die in ihm ein Mitglied der Theatergruppe »Heiterer Blick« erkannten, welche als Hoffnungsträger des künftigen Kulturbahnhofs gehandelt wird und mit der Aufführung des expressionistischen Stummspiels »Nosferatu oder die Harmonie des Grauens« erstmals dessen künftige Veranstaltungstauglichkeit zu testen wagt.

Mit derart visionärer Zukunftsmusik im Kopf war es wohl folgerichtig, einen Blumengruß am Grab des bedeutendsten Phantasten der Stadt Radebeul – des Abenteuerschriftstellers Karl May – zu hinterlassen.

Warum die Hoftore »Am Kreis«, dem historischen Zentrum von Alt-Radebeul, für die geschichtsinteressierten Expeditionsteilnehmer verschlossen blieben, ließ sich leider nicht ergründen. Gastgeber für die »Radebeuler Begegnungen« wollte hier keiner sein. Besonders schade war, dass viele Geschichten unerzählt blieben, von Menschen, die seit Generationen in der namengebenden Ursprungsgemeinde unserer Stadt ansässig sind. Erstmals wurde das Anliegen der innerstädtischen Begegnungen rigoros in Frage gestellt, und hätten nicht einige hilfsbereite Mitarbeiter aus der Erlebnisbibliothek und dem Rathaus die Veranstalter unterstützt, wäre die Begegnung im Jubiläumsjahr wohl ausgefallen.

Um den erlebnisreichen Tag festlich ausklingen zu lassen, bot schließlich jener Ort ein schlüssiges Ziel, an dem vor 75 Jahren der Verwaltungsakt vollzogen wurde, den wir in diesem Jahr als Stadtgeburtstag ausgiebig feiern. Mit herzlichen Worten begrüßte Oberbürgermeister Bert Wendsche die Expeditionsteilnehmer und Baubürgermeister Dr. Jörg Müller erläuterte die Pläne für das Sanierungsgebiet in Radebeul-Ost. Danach wurde das üppige Buffet eröffnet, auf welchem – dank edler Spender – Kuchen, Torten, Schnittchen und Suppen um die Gunst der hungrigen Ankömmlinge konkurrierten.

Das Kulturprogramm eröffneten Jan Dietl und Uwe Wittig vom »Theater Heiterer Blick« mit einem minimalistischen Exkurs durch Radebeuls 75- jährige Stadtgeschichte.

Ein besonderer Leckerbissen war die zum Kult mutierte Laientheateraufführung aus der Feder der Naundorfer über die legendäre Zwangseheschließung zwischen Heinrich Radebeul und Brunni Kötzschenbroda und deren beider Adoptivkinderschar. Während das selbst geschriebene Theaterstück beim Publikum für heftige Heiterkeitsattacken sorgte, ließen die temperamentvollen Linedancers aus Radebeul-Ost wohl eher etwas besorgte Gedanken an den erschöpften Zustand des eigenen Körpers aufkommen. Nichtsdestotrotz hatte sich der Rathaus-Parkplatz zum gemütlichen Festplatz gewandelt und jeder schwatzte mit jedem, bis die Natur dem Treiben ein Ende setzte. Ab 20 Uhr landeten hinterm Rathaus die ersten Mückenschwärme und kaum eine Stunde später hatten sie es schließlich geschafft, den letzten Gast zu vertreiben.

Im Spannungsfeld zwischen Stadtgeschichte und Stadtentwicklung bot die Exkursion vielerlei Anregung, weckte Lust, noch einmal im Stadtlexikon nachzuschlagen, ermöglichte Kontakte zwischen Kulturmachern, Verwaltungsangestellten, Radebeuler Alt- und Neubürgern. Ob traditionsbewusste Modellbahner, alteingesessene Fürstenhainer, bauherrenpreisgekrönte Garteninhaber oder fleißige Kleingärtner, sie alle hatten sich gut auf den Ansturm der Besucher und ihre vielen Fragen vorbereitet. Gedankt sei ihnen dafür, dass sie Höfe und Gärten, Privat- und Vereinsräume in freudiger Anteilnahme geöffnet hielten. Gedankt sei auch der Tischlerei Lehmann aus Fürstenhain, dem Reformhaus Schreckenbach und der Weinhandlung Andrich aus Radebeul, die Familienchroniken und alte Geschäftsunterlagen sichteten und Fotos und Dokumente für das »Museum im Rucksack« zur Verfügung stellten.

Und was vom Tage übrig blieb, war wohl die mehr oder weniger stichhaltige Erkenntnis:

Ein Staffelstab, der lässt sich schnell ersetzen, eine Dorfgemeinschaft jedoch nicht. Drum Tore auf, Probleme angesprochen! Denn nur gemeinsam lassen sie sich lösen. Raus an die frische Luft, ran an die Basis und mitgemacht, wenn in zwei Jahren die sechste »Begegnung« von Radebeul aus zur 725-Jahr-Feier nach Lindenau führen wird.

Karin Gerhardt

[V&R 10/2010, S. 4-8]

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