Erinnerungen an Milena

Irgendwann im Sommer 1925, also in diesen Tagen vor 90 Jahren, dürften sich Passanten am Bahnhof Kötzschenbroda und dann weiter entlang der Moritzburger Straße über einen nicht alltäglichen Anblick gewundert haben. Ein adliger Herr im feinen Anzug schiebt eine Karre mit Gepäckstücken, begleitet wird er von zwei jungen, gut gekleideten Damen. Soeben war die jüngere der beiden dem Zug aus Dresden entstiegen. Vorüberlaufende hören die Gruppe in einem fremden Deutsch miteinander reden, slawische Worte helfen aus, wo das Deutsch versagt. Das Ziel der Gesellschaft ist die Gommlichstraße in Friedewald-Buchholz, eine kleine, sich in einem Bogen erst bergan- und dann wieder bergab windende Straße, an der kaum mehr als eine Handvoll Häuser stehen. Eines davon, die Hausnummer 15b, gehört dem Ehepaar Otto Rühle und Alice Rühle-Gerstel, die am 1. April 1924 auf diesem verträumten Flecken Erde ihren Verlag „Am anderen Ufer“ gegründet und sich sowohl der Herausgabe von Publikationen namhafter, dem linken Spektrum zugehöriger Wissenschaftler und Schriftsteller (u.a. Alfred Adler) verschrieben haben, als auch eigene Veröffentlichungen zu pädagogisch-psychologischen Themen vorantreiben. Die drei Personen, die den langen Aufstieg durch Niederlößnitz und dann Lindenau in Kauf nehmen, sind Jirka Malá, eine junge tschechische Übersetzerin aus Prag, Xaver Graf Schaffgotsch, ein ehemaliger, aus dem heutigen Slowenien stammender österreichischer Offizier, der unter den Eindrücken des 1. Weltkriegs und der Oktoberrevolution Kommunist geworden war, und schließlich Milena Jesenská, Journalistin und langjährige Briefpartnerin und Freundin Franz Kafkas. Dass Milena Jesenská (1896–1944) fast ein ganzes Jahr in Friedewald-Buchholz lebte und dieser Aufenthalt eine Zäsur in ihrem Leben markierte – Kafka war am 3. Juni 1924 in Wien gestorben, sie würde Ende 1925 nach sieben Jahren Abwesenheit wieder in ihre Heimatstadt Prag zurückkehren und dort eine zentrale Rolle im gesellschaftlich-politischen Leben spielen – veranlassten mich zu einer Spurensuche in Texten (vgl. Fußnoten bzw. die Literaturangaben am Ende des zweiten Teils) und vor Ort in Friedewald sowie im Radebeuler Stadtarchiv. Mein Dank gilt deshalb Frau Karnatz vom Stadtarchiv und den freundlichen, weil auskunftsbereiten Anwohnern der Gommlichstraße, besonders Herrn Köhler, der genau in dem Haus wohnt, in dem die Rühles ihren Verlag betrieben und in dem Milena für zehn Monate im Jahr 1925 zu Gast gewesen war. Ich freue mich auch über Hinweise bzw. Ergänzungen von Lesern, insbesondere deshalb, weil ich hoffe, dass evtl. jemand die kleine Ausstellung zu Milena Jesenská besucht hat, die letztes Jahr im Stadtmuseum Dresden gezeigt wurde. Darauf wurde ich allerdings erst in diesem Frühjahr – also zu spät! – aufmerksam.

Teil 1: Milena Jesenská und Franz Kafka

Franz Kafkas schwierige Beziehung zu Frauen ist durch die Literaturwissenschaft hinlänglich beschrieben und erforscht worden. Das gewichtigste literarische Zeugnis dieser Bindungen sind die „Briefe an Milena“, die erstmals 1952 erschienen und für großes Aufsehen sorgten. Von April 1920, als Kafka in Meran (Südtirol) zur Kur weilte, bis in den Dezember 1923 (also ein halbes Jahr vor seinem Tod) schrieb Kafka an die um 13 Jahre jüngere, zu der Zeit in Wien mit dem Galan Ernst Polak liierte Frau, zunächst noch zurückhaltend, dann von Mai bis September 1920 fast täglich, manchmal sogar mehrfach am Tag. Diese Briefe, die „zu den schönsten und bedrückendsten Zeugnissen dieses Genres“ zählen, gaben der unglücklich verheirateten jungen Frau das Gefühl der unbedingten intellektuellen Anerkennung und feinsinnigen Zuneigung eines Mannes, dessen rätselhafte Erzählungen sie mit Bewunderung gelesen und nun ins Tschechische übersetzen wollte. Tatsächlich gründete die Korrespondenz zwischen beiden darin, dass Milena sich vorgenommen hatte, mit ihrer Übersetzung von Kafkas Erzählung „Der Heizer“ den noch weitgehend unbekannten deutschsprachigen Prager Schriftsteller der tschechischen Leserschaft zu erschließen. Ende April 1920 erschien „Der Heizer“ dann in einer tschechischen Zeitschrift, und Kafka war mit der Übersetzung zufrieden. Milenas Versuche, Franz Kafka alsbald persönlich kennen zu lernen, wurden von diesem jedoch mit Unsicherheit und Zurückhaltung aufgenommen, der distanzierte briefliche Kontakt bedeutete ihm mehr als eventuelle körperliche Nähe. Ja, Kafka hatte geradezu Angst davor, ihre Liebe anzunehmen und sich darauf einzulassen: „Auch ist es vielleicht nicht eigentlich Liebe, wenn ich sage, daß Du mir das Liebste bist; Liebe ist, daß Du mir das Messer bist, mit dem ich in mir wühle“ (Brief vom 14.9. 1920), weshalb er dann bereits im Januar 1921 Milena darum bat, den Briefwechsel ganz einzustellen: „Nicht schreiben und verhindern, dass wir zusammenkommen, nur diese Bitte erfülle mir im stillen.“ Dass Milena für Kafka aber eine wichtige Bezugsperson blieb lässt sich u.a. daran ermessen, dass er ihr im Oktober 1921 seine Tagebücher zur Aufbewahrung überließ, die sie nach seinem Tod dessen Freund Max Brod weiterreichte. Noch viel berührender ist allerdings, dass Milena Franz noch wenige Tage vor seinem Tod im Sanatorium in Kierling bei Wien besuchte („Ich saß neben Kafka, als er in Wien im Sterben lag, und ich wartete, bis er starb“) und sie schließlich einen sehr persönlichen Nachruf schrieb, der am 6. Juni 1924 in der Prager Zeitung „Národní Listy“ („Nationalzeitung“) erschien. Darin heißt es u.a.: „Er war zu hellsichtig, zu weise, um leben zu können […] Er kannte die Menschen, wie sie nur ein Mann von großer nervlicher Empfindsamkeit zu kennen vermag […] Er war ein Mensch und Künstler von so feinem Gewissen, daß er auch dort etwas spürte, wo sich andere, die nicht so empfindlich waren, ungefährdet fühlten.“7. Dass Milena Jesenská in verwandelter Form auch in Kafkas literarischem Werk Eingang fand, wurde durch die Forschung viele Jahre später entdeckt. Zwei Frauengestalten in „Das Schloß“, Frieda und Amalia, tragen unverwechselbare Züge Milenas.

Bertram Kazmirowski

(Fortsetzung folgt)

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