Die da oben und die da unten…
Schachspieler wissen am ehesten, was eine Demarkationslinie ist. Unter den vier Siegermächten, die Deutschland nach dem 2. Weltkrieg aufteilten, erreichte der Begriff eine ähnliche strategische Bedeutung, doch eine weit größere und langwierigere Dimension.
Wann allerdings die Radebeuler »Demarkationslinie« entstanden sein soll, bleibt im Dunklen verborgen. Und selbst die unzähligen bisherigen Namenspatrone der einstigen und heutigen Meißner Straße sind heute nicht mehr zu befragen. Nicht jener uniformierte Diktator und selbsternannte »Führer«, nicht »Väterchen Stalin« und auch nicht der greise 1. Präsident der DDR, Wilhelm Pieck, dessen Namen die Straße bis 1989 trug.
Glaubt man aber nun den beiden forschen ZEIT-Journalisten, dann wohnt das Radebeuler Bettelpack unterhalb dieser Straße und der Radebeuler Geldadel oberhalb. Das zu wissen scheint zweifellos unverzichtbar, will man ein Radebeuler Lebensgefühl richtig beschreiben. Glaubt zumindest die ZEIT! Ob deren Mitbegründerin Gräfin von Dönhoff oder Altkanzler Helmut Schmidt die gewählte Herangehensweise wirklich toleriert hätten bzw. haben, sei dahingestellt. Ebenso die Hoffnung der Schreiber, dass ihrem Glauben auch die Radebeuler folgen werden. Normalerweise müsste nach Veröffentlichung dieses Artikels längst das große Umziehen im Gange sein. Denn welcher Manager, Banker oder Immobilienmakler lässt sich schon gern in die eine Kategorie einordnen, wo er doch glaubt, längst zur anderen zu gehören.
Erstaunlicherweise aber rollen noch immer keine Umzugs-LKW. Daher muss zur Ehrenrettung vieler wohlhabender Neuradebeuler wohl gesagt werden, dass es ihnen vollkommen schnuppe ist, ob sie nun direkt unterhalb der Weinberge oder in der Nähe des Elbufers leben. Beides hat sowohl Vor- wie Nachteile. Und daran kann die Bezeichnung »Demarkationslinie« rein gar nichts ändern. Es sei denn, die oben ziehen irgendwann mal entlang der »Meißner« einen Stacheldrahtzaun und hängen daran Schilder auf mit Mahnungen wie »Zutritt nur mit Einkommensnachweis bzw. Kontoauszug ab 1 Million € aufwärts!«. Dann wäre der soziale Friede endlich fest zementiert, der Begriff »Demarkationslinie« rechtens und Ausreden zählten ab sofort nicht mehr.
Um solche Missverständnisse von vornherein auszuschließen, haben sich die ZEIT-Journalisten in ihrem Beitrag selbstverständlich auf die »üblichen Verdächtigen« konzentriert: einen Luxusimmobilienhändler, einen cleveren Schlossbesitzer als Vermieter und eine Autohausbesitzerin, deren unterste Preisklasse bei ca. 150.000,– € liegt. Sehr ausführlich kommen also vor allem jene zu Wort, deren Wege zum Wohlstand meist ziemlich unangenehm duften. Nicht hinein in die weitere Aufzählung gehört der jetzige Besitzer von Hohenhaus, weil der in Radebeul längst heimisch geworden ist und sich auch entsprechend einbringt. Dass die Kommunalpolitik durch den amtierenden OB zu Wort kommt, entspricht sozusagen einem ganz normalen Akt der Höflichkeit. Zum echten Härtefall aber wird das beschriebene Leid einer zugunsten einer Luxussanierung aus ihrer Wohnung vertriebenen Altradebeulerin. Wo aber bleibt die Recherche der ZEIT-Journalisten beim und über den Vertreibenden, jenen Luxussanierer nämlich. Weil gerade darauf die Antwort fehlt, wirkt die beschriebene Tragik wie ein ziemlich hilfloser Versuch, die eigentliche Tendenz dieser Radebeul-Beschreibung zwanzig Jahre nach Mauerfall und Wiedervereinigung zu verschleiern. Eine Tendenz, die den Neid fördert und damit dem sozialen Unfrieden Tür und Tor öffnet. Im Übrigen suchte das Journalistenteam auch einen Radebeuler Kunstpreisträger und engagierten Denkmalschützer auf. Der stellte vor seine Antwort die Gegenfrage: »Wie sind Sie auf Radebeul gekommen?« Worauf man einen Moment herumdruckste, um dann in aller Schlichtheit zu erwidern: »Der FOCUS hat über Radebeul geschrieben, da wollten wir das auch mal tun!« Das jedenfalls war wirklich eine ehrliche Antwort.
W. Z.
[V&R 2/2010, S. 13f.]