Eine Talutanlage, was ist das?

Keine Ahnung! Trösten sie sich, ich wußte es bisher ebenfalls nicht und fand auch in keinem Nachschlagewerk eine Erklärung. Der Begriff hat etwas mit Weinbau zu tun und kommt aus dem Französischen. Sagen wir frei nach Buch und Film „Feuerzangenbowle“: „Watt is ein Talut? Da stelle mer uns janz dumm und sage mehr, ene Talutanlage is so watt wie een Frühbeet für Wein.“ Nun wissen Sie’s ganz genau! ln Zeiten, als noch kein Tafelwein (= solcher zum Essen) aus Griechenland, Südafrika oder Neuseeland fast ständig auf dem hiesigen Markt war, kam der Wunsch auf, ein paar Trauben schon früher zu essen als der Wein üblicherweise (Ende September / Anfang Oktober) im Elbtal gelesen wird. Das heißt, man mußte künstlich optimale Wachstumsbedingungen schaffen, Frost und Winde fernhalten, dafür Wärme speichern. Und wir haben in Radebeul eine fast vollständige Talutanlage, in der Größe (ca. 40 x 70 m) wohl einzigartig in Deutschland. Wir finden sie in der Rebenversuchsstation auf der Mittleren Bergstraße 44. Vielleicht konnten Sie sie am 21. August zum Tag der offenen Tür sehen? Das o. g. Areal ist von ca. 2,5 bis 3 m hohen Mauern umgeben und hat 5 Abteilungen, die durch ebensolche Mauern gebildet werden. Jede Abteilung ist also etwa 8 m breit und 70 m lang. Die Wände sind verputzt und wurden mit dunklem, wärmespeichernden Anstrich versehen.

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              Blick auf die Talutanlage

Die Längswände tragen nach Westen geneigte, kurze Verdachungen aus Holzlattung mit handgestrichenen Biberschwanzziegeln. Vor den Ost-Südostseiten der Wände steht der Tafelwein, vor den meist im Schatten liegenden West-Nordwestseiten wuchsen früher Sauerkirschen. Es gilt als sehr wahrscheinlich, daß früher an die kurzen Dächer zeitweilig Frühbeetfenster angelehnt wurden, um im Frühjahr Frost- und Windschutz – kritisch sind überschlagende Winde, fallende Fröste und auch Hagel – zu bieten. Leider hat sich keines der Fenster mehr erhalten. Vielleicht sollte man sich die komplette Anlage so ähnlich vorstellen, wie die verglasten Terrassen in Sanssouci, die ursprünglich auch dem Weinbau gedient haben. Eine kleine Talutanlage bzw. die Reste davon sah man bis vor kurzem im Grundstück Meißner Str. 126. Einen alten Weinstock unter Glas gab es auch im Gelände des Schlosses Seußlitz. Aber zurück zur Anlage an der Mittleren Bergstraße. Interessant sind z. T. noch vorhandene Zahlen auf Porzellanschildern und unleserliche, ehemals beschriftete Holztafeln an den Wänden. Sie gaben wohl Auskunft über die hier

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Vor den Ost-Südostseiten der Wände steht der Tafelwein

angebauten Rebsorten. Weitere Recherchen führen da sicherlich zu Ergebnissen, eine hieß ganz sicher Tafeltraube Fleischmann. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Ursprung der Anlage in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts liegt und vielleicht auf Oberlandweinmeister Fleischmann, Bergverwalter Kadner oder Leutnant Fischer zurückgeht, die alle in der Zeitspanne mit dem Krapenberg zu tun hatten. Die Talutanlage wird heute durch Herrn Häntsch und seine Mitarbeiter von der Rebenversuchsstation genutzt und so der Nachwelt erhalten – ein Denkmal zur Produktionsgeschichte des Weinbaus.

Dietrich Lohse

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