Sympathisch unprätentiös

Zur „Winnetou“-Neuverfilmung zu Weihnachten 2016

An die Weihnachtsfeiertage 1982 kann ich mich noch ganz gut erinnern. Ich sehe unsere Familie, wie sie einträchtig vor dem Chromat-Farbfernsehgerät versammelt ist und Winnetou und Old Shatterhand durch den Wilden Westen – oder was wir damals dafür hielten – reiten sieht. Karl May im DDR-Fernsehen war ein Straßenfeger, was kümmerte es uns, dass die Filme des Klassenfeindes damals schon an die 20 Jahre auf dem Buckel hatten? Ein Kindheitsmythos war entstanden, denn es gibt wohl kaum einen in meiner Generation – ich war damals 10 – der sich nicht vom heldischen Gestus und dem edlen Pathos der beiden legendären Hauptdarsteller einfangen ließ. Von der Wand des Kinderzimmers unseres Sohnes blicken die beiden immer noch in der Pose der Weltenretter auf uns unheroische Bleichgesichter herab. PLANETA-Poster im Offset-Glanz, ich schätze Produktionsjahr 1988.

Ich sehe seit einigen Jahren vergleichweise wenig Fernsehen und überhaupt selten Filme. Ich bin kein ausgewiesener Kenner des Werkes von Karl May. Und ich weiß auch nur mäßig viel über die Geschichte des Wilden Westens. Aber ich hatte in den Weihnachtsferien 2016 Zeit und wollte in die Neuverfilmung des „Winnetou“-Stoffes hineinschauen. Als Radebeuler irgendwie auch ein bisschen aus Pflichtgefühl, man muss ja mitreden können, dachte ich mit Blick auf das nächste Karl-May-Fest und die nächste Saison auf der Felsenbühne. Muss ich mich dafür schämen, wenn ich gerade an dieser Stelle, in unserem traditionell (hoch)kulturell ausgerichteten Monatsheft, öffentlich bekenne, dass ich innerhalb von vier Tagen die drei Teile auf RTL geschaut und mit meiner Familie knapp sieben Stunden vor der Glotze gehangen habe? Warum habe ich nicht nach einer halben Stunde ausgemacht oder bin gegangen? Was hat mich dazu gebracht, passiven TV-Konsum aktivem Musizieren oder Lesen vorzuziehen? Wieso habe ich unseren Kindern nach dem 1.Teil („Winnetou – Eine neue Welt“) erlaubt, ja geradezu aufgedrängt, gemeinsam mit mir die beiden anderen Teile („Das Geheimnis vom Silbersee“ und „Der letzte Kampf“) zu schauen? Es waren bestimmte Details, die mir sehr gut gefielen und die dafür sorgen, dass die ganze Geschichte eine angenehm bodenständige Note und unprätentiöse Glaubwürdigkeit bekommt. Punkt 1: Die Anlage der Hauptfiguren Winnetou (Nik Xhelilaj) und Old Shatterhand (Wotan Wilke Möhring). Weder der eine noch der andere ist ein unantastbarer Superheld, denn beide sind sehr erdige Charaktere und erlauben deshalb Identifikation. Shatterhand entwickelt sich, schlüssig erzählt, aus dem nach Amerika ausgewanderten sächsischen Ingenieur Karl May, der die dröge Arbeit in einer deutschen Amtsstube gegen eine neue berufliche Herausforderung beim Eisenbahnbau eintauschen will und an der Vision einer besseren, lies: modernen Welt mitbauen möchte. Der aber seine christlichen und humanistischen Überzeugungen nicht wie so viele andere Glücksritter bei der Einwanderungsbehörde auf Ellis Island vor New York abgibt, was ihn peu à peu zum Außenseiter unter den Weißen und zum Freund der Apatschen werden lässt. Winnetou wiederum ist ein Häuptling, der sich in einer schwierigen Lage nicht zu schade ist sich bei Frauen Rat zu holen und etwa seine Schwester Nscho-Tschi fragt: „Was soll ich tun?“ Dessen unerfüllte Liebe zu Ribanna in dem Zwist der Indianerstämme untereinander begründet ist, was ihn schmerzlich an die Schwäche des eigenen Stammes gemahnt. Das hat gar nichts mehr vom allzeit souveränen Winnetou Price’scher Prägung. Die am meisten berührende, weil aussagestärkste Szene zwischen beiden ist paradoxer Weise die traurigste: Winnetou liegt im Sterben und lässt Shatterhand wissen, dass mit ihrer Freundschaft ein Anfang (im friedlichen Miteinander zwischen Indianern und Weißen) gemacht ist, obwohl er selbst ganz am Ende ist. Punkt 2: Das Bemühen um Authentizität. Im Vorfeld der Ausstrahlung wurde vielfach auf das Risiko hingewiesen, dass die Darsteller der Indianer die tatsächlich noch existente Indianersprache Lakota benutzen. Das klingt nicht nur gut, sondern schafft ein Bewusstsein für die reale historische Situation des Aufeinandertreffens der Ureinwohner und der Fremden: Dinge mussten vereinfacht (und) erklärt und Gedanken auch schon mal erraten werden, weil man sie dem anderen aufgrund der Sprachbarriere nicht begreifbar machen konnte. Es ist völlig unproblematisch, dass in den entsprechenden Passagen deutsche Untertitel laufen. Punkt 3: Die Anerkennung herkunftsspezifischer Details. Es ist stimmig, dass der Sachse Shatterhand drei polnische Zimmerleute für seinen Hausbau anheuert und den ausgehandelten guten Preis damit rechtfertigt, dass sie ja quasi Nachbarn seien. Es passt, dass er die drei Polen bei späterer Gelegenheit mit einer Alltagsfloskel auf Polnisch grüßt, als Sachse konnte man das eben auch im 19. Jahrhundert, die Sprachgrenze verlief damals etwas östlich von Breslau, also nicht zu weit entfernt von Leipzig, Chemnitz oder Radebeul. Es ist völlig richtig, dass Shatterhand vor dem Essen betet. Das war für jeden Deutschen ritualisiert und Usus in jedem Haushalt seiner Heimat. Punkt 4: Der Nostalgiefaktor kommt zum Tragen. Wer je die Reinl-Verfilmungen der 60er Jahre gesehen hat, erkennt die Landschaft wieder. Damals wie auch 2015/16 Kroatien, damals wie heute sehr eindrucksvoll. Auf ihre alten Tage machen sich auch noch Gojko Miti? (79) als Winnetous Vater Intschu-Tschuna und Mario Adorf (89) als Santer sen. um die Produktion verdient. Schließlich wird auch der bekannten Filmmusik aus der Feder Martin Böttchers dezent gehuldigt, tauchen die vertrauten Motive in verwandelter Form immer wieder auf. Punkt 5: Die phasenweise langsam erzählte Handlung der drei historischen Winnetoufilme wird in der Neuauflage (Regie: Philipp Stölzl) durch den Einbezug von Motiven der „Silbersee“-Story und der „Ölprinz“-Saga deutlich aufgewertet und überdies in einen örtlichen sowie zeitlichen Zusammenhang gestellt. Nicht nur haben alle drei Teile als Zentrum das Städtchen Roswell in Arizona, das beim historisch korrekt verorteteten Apatschen-Stammland liegt, sondern sie zeichnen auch die Integration Shatterhands in diesen Stamm nach, von dem er nach Winnetous Tod zum Häuptling gewählt wird. Da sich die Produktion mutig von der May’schen Buchvorlage und den Filmklassikern gelöst und eigene Akzente gesetzt hat, bringt sie eine eigenständige Ästhetik hervor, die überzeugt, ohne May-Puristen oder Brice-Barker-Fans vor den Kopf zu stoßen. Auf besondere Weise wird dies in einer Schlüsselszene im dritten Teil deutlich, in der das zutiefst humanistische Denken Mays mit der noch immer nicht eingelösten Hoffnung auf Frieden verschmilzt: Shatterhand weiht mit seiner Frau Nscho-Tschi ihr neugebautes Haus auf Apatschengebiet ein und lädt zu diesem Anlass alle ein, die ihnen dabei geholfen haben. So feiern, lachen und musizieren Indianer und Weiße miteinander und halten Festmahl zusammen. Nicht nur diese Szene rechtfertigte eine Ausstrahlung gerade auch zu Weihnachten.
Ich weiß nicht, ob und wie RTL die 15 Millionen für die Produktionskosten refinanzieren kann. In die Kinos werden die drei Filme sicherlich nicht kommen, und eine gekürzte Kinofassung der mehr als 300 TV-Minuten hätte wenig Sinn. Wer die Erstausstrahlung verpasst hat und nicht auf eine kurzfristige Wiederholung setzt, kann sich für etwas mehr als 20 Euro den Dreiteiler auf DVD bzw. Blue-Ray kaufen. Keine schlechte Investition, denn – so der Titel des Gesamtprojektes – „[D]er Mythos lebt.“ Ob sich meine Kinder in 34 Jahren allerdings an die gemeinsamen Fernsehstunden erinnern werden und ob dann in einem anderen Kinderzimmer ein Poster von Nik Xhelilaj und Wotan Wilke Möhring hängt wird sich erst noch erweisen müssen. Verdient hätten es die beiden allemal.
Bertram Kazmirowski

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