Keine Kritik, sondern eine Würdigung

Zur Uraufführung von In Gottes eigenem Land am 29.4. 2017 in den Landesbühnen

Von einem „Theaterwunder“ sprach eine Mitarbeiterin des Hauses in der Pause um zu erklären, wie aus einem noch kurz vor der Uraufführung unfertig erscheinenden Stück ein prächtig bebildertes, von der ersten Minute an mitreißendes und das Publikum in den Bann ziehendes Schauspiel entstehen konnte. Tatsächlich war vieles wunderbar an diesem Abend, der – das behaupte ich eingedenk meiner Erfahrungen in den letzten 25 Jahren als regelmäßiger Besucher von Schauspielproduktionen der Landesbühnen – als ein Höhepunkt in der Geschichte des Hauses gelten kann und im Rückblick ganz sicherlich mit der Intendanz Manuel Schöbels verknüpft bleiben wird. In Gottes eigenem Land ist ein ebenso ungewöhnliches wie faszinierendes Projekt, weil es das staunenswerte Ergebnis eines fünfjährigen (!) Prozesses ist, der von persönlichem Engagement, organisatorischem Geschick, künstlerischer Klasse und externer Unterstützung getragen wurde. Aber der Reihe nach.

Szenenbild mit Gojko Miti´c und Moritz Gabriel


Jane Taubert, 1990 aus den USA nach Deutschland gekommene Sängerin mit deutschen Wurzeln, später langjähriges Ensemblemitglied der Landesbühnen und seit einiger Zeit Assistentin der Intendanz, entdeckte in dem 2011 erschienenen historischen Roman In Gottes eigenen Land von Eberhard Görner ihre eigene Familiengeschichte wieder, übersiedelte doch ihr Vorfahr 1738 aus der Pfalz nach Pennsylvania ebenso wie vier Jahre später der aus Mitteldeutschland stammende lutherische Pfarrer Heinrich Melchior Mühlenberg (verkörpert durch Moritz Gabriel). Der Mythos von Amerika als einem von Gott besonders gesegneten Land, in dem man seiner eigenen Religion frei von Verfolgung und Einschränkung nachgehen kann, reicht zurück bis zu den sogenannten „Pilgrim Fathers“, die 1620 aus England kommend an der Ostküste Amerikas an Land schlugen. Zwar gelten – je nachdem, wen man fragt – inzwischen auch Australien und Neuseeland als „God’s own country“, aber ursprünglich bezog sich dieser Begriff auf Nordamerika. Recherchen einer amerikanischen Historikerin förderten zu Tauberts Verblüffung sogar zu Tage, dass ihre den lutherischen Glauben bekennenden Vorfahren Mühlenberg im Gottesdienst einst erlebt hatten. Mühlenberg als historisch verbürgte Person war Zeitgenosse bekannterer Theologen wie Graf Zinzendorf (Utz Pannike), dem Gründer der Herrnhuter Brüdergemeine, und August Herrmann Francke aus Halle (Matthias Henkel). Als junger Pfarrer wurde Mühlenberg 1742 nach Pennsylvania entsandt, um den dort siedelnden Deutschen (bis 1776 waren insgesamt etwa 100.000 Deutsche nach Nordamerika ausgewandert) ein guter Hirte zu sein, was vor allem erforderte, gemeindliche Strukturen und gottesdienstliche Ordnung zu schaffen.

Jane Taubert träumte davon, dass dieser Romanstoff auf die Bühne kommt und erwärmte den erst 2012 nach Radebeul gewechselten Schöbel bereits in seinem ersten Amtsjahr für diese Idee. Gemeinsam planten sie weiter, holten mit Olaf Hörbe einen etablierten hauseigenen Schauspieler und Autor ins Boot, der sich an eine Bühnenfassung machte. Die Legende will es, dass Schöbel bereits zu diesem sehr frühen Zeitpunkt Gojko Miti? von einer Mitwirkung in ferner Zukunft überzeugte, der dieser Bitte auch nicht widerstehen konnte, wie der noch immer beeindruckend fitte Vorzeigeindianer (76) nach der Vorstellung bekannte: „Immer wenn ich nach Radebeul kam, sprachen die Leute von mir als ‚unser Gojko’. Da hatte ich ja gar keine andere Wahl!“ Und so übernahm Miti? die Rolle des Delawarenhäuptlings Fliegender Pfeil, den es – eine Ausnahme bei den auftretenden Figuren im Stück – in Wahrheit nie gegeben hat.

Die Inszenierung historischer Situationen wie eine mehrwöchige Überfahrt deutscher Auswanderer oder kriegerische Auseinandersetzungen zwischen englischen Soldaten und Indianerstämmen bedürfen einer großen Zahl von Mitwirkenden, damit sie ihre volle Wucht entfalten. Das ist im Theater nicht anders als im Film, wo man selbstverständlich erwartet, dass für Massenszenen ausreichend Komparsen zur Verfügung stehen. Selbst unter Aufbietung aller Kräfte inklusive bewährter Statisten wäre das Ensemble der Landesbühnen zu klein gewesen, um eine solche Aufgabe zu stemmen. Abhilfe schafft hier das aus dem angelsächsischen Raum stammende Konzept der sogenannten „Community Players“, womit man ortsansässige Laiendarsteller bezeichnet, die durch Theaterpädagogen (Dirk Strobel, Morten Gentsch) in einem mehrmonatigen, auch didaktisch-methodisch herausfordernden Probenprozess auf die Mitwirkung an einer professionellen Produktion vorbereitet werden. Damit diese Art der Zusammenarbeit funktioniert, muss ein Regisseur gefunden werden, der damit Erfahrung hat. Wie gut, dass die Landesbühnen seit einigen Jahren schon eine Kooperation zum York Theatre Royal in England pflegen und von dort Damian Cruden zur Übernahme der künstlerischen Leitung gewinnen konnten. Cruden spricht in einem Interview (im übrigens außergewöhnlich reichhaltigen und lesenswerten Programmheft) zu Recht davon, dass für nicht wenige dieser Laiendarsteller die Theaterarbeit einer Form der Reintegration in die Gesellschaft gleichkäme oder sie sich dadurch die für sie völlig neue Theaterwelt erschließen könnten. Etwa 40 solcher Community Players aller Altersgruppen bevölkern als Soldaten und Matrosen, Farmer, Indianer und Gemeindemitglieder die Bühne und ermöglichen mit ihrer Präsenz erst die Sogwirkung, der man sich nicht entziehen kann. Als wäre der Einbezug einer so großen Anzahl von Laiendarstellern noch nicht genug der organisatorischen Herausforderung, ergänzen außerdem fünf Herren des Ensemble Nobiles (Vokalquintett) sowie ca. 50 weitere Sänger der Lutherkantorei und der Chorgemeinschaft Radebeul-Lindenau das Ensemble, denn (geistliche) Musik spielte im historischen Kontext eine bedeutende Rolle (Chorleitung Uwe Zimmermann). Bereits im 18. Jahrhundert war etwa das auf Martin Luther selbst zurückgehende Lied Ein feste Burg ist unser Gott weit verbreitet, weshalb es authentisch ist, dass die unter Not und Angst leidenden deutschen Protestanten dieses Lied anstimmen, wenn sie sich im Stück unter Leitung Mühlenbergs und dessen Frau Anna Maria (Julia Rani hat besonders nach der Pause viele starke Momente) gegen Indianer zur Verteidigung rüsten. Zusammen mit den 16 Hauptdarstellen galt es also etwa 100 Mitwirkende zu koordinieren, was für die Landesbühnen eine Rekordbesetzung bedeutet. Eine Rezension der Leistung aller maßgeblichen Akteure ist deshalb unmöglich, weshalb ich mich nur auf drei ganz unterschiedliche Aspekte der künstlerischen Leistung beschränken und diese herausheben möchte.

Zum einen gelingt es dem Autor Olaf Hörbe durch einen genialen dramatischen Einfall, dem Stück Pfiff zu verleihen. Wie leicht nämlich hätte die Darstellung historischer Gegebenheiten (Die Kostüme und Bühne von Tilo Staudte sind eine Augenweide!) in eine trockene Abfolge reanimierter, miteinander kaum verbundener Szenen abgleiten können, denn die im Stück verhandelten Ereignisse umspannen den Zeitraum von immerhin etwa 15 Jahren. Aber das Hinzunehmen zweier vom eigentlichen Geschehen unabhängiger Instanzen, einfach Person 1 (Holger Uwe Thews) und Person 2 (Sophie Lüpfert) genannt, ermöglicht dem Zuschauer, eine Beziehung zu Pfarrer Mühlenberg und seinen Sorgen und Nöten aufzubauen, denn Person 1 und 2 kommentieren und bewerten dessen Handeln, drücken aus, was man sich als Zuschauer fragt und verknüpfen erzählend Szenen auf sinnfällige Weise. Zum anderen ist es ein Genuss, dem Gesang des mehrfach ausgezeichneten Leipziger Vokalquintetts Ensemble Nobiles zu lauschen, das über weite Strecken dezent das Geschehen untermalt. Der erst 26-jährige Komponist und Sänger Paul Heller schuf eine Musik, die an tradierte, mittelalterliche Gregorianik und Vokalpolyphonie erinnert, gleichzeitig aber auch neue Harmonien einschließt. Einzelne Rollen, wie etwa die des Mühlenberg oder jene des Indianerhäuptlings Fliegender Pfeil erhalten auf diese Weise eine akustische Markierung, die im Verlauf des Stückes Orientierung bietet und Wiedererkennung ermöglicht. Zum dritten schließlich ist Moritz Gabriel zu nennen, der binnen 8 Wochen eine weitere Hauptrolle zu verinnerlichen und einzustudieren hatte. Zwar ist der Textkorpus von In Gottes eigenem Land bei weitem nicht so umfangreich wie in Dr. Jekyll und Mr. Hyde, aber mit ihm als Pfarrer Mühlenberg steht und fällt die Handlung, er ist das Zentrum, auch wenn er in einer Szene einmal nicht vertreten ist. Gabriel vermag es vortrefflich, Mühlenbergs trotzige Uneigennützigkeit und Entschlossenheit einerseits, seine obrigkeitshörige Unsicherheit andererseits zu vermitteln.

Schließlich darf nicht unerwähnt bleiben, dass ein solch gewaltiges Projekt nur mit zusätzlichen öffentlichen Mitteln und privater Unterstützung umsetzbar ist. Weil es als ein Beitrag zum Lutherjahr 2017 deklariert ist, fließen Mittel des Bundes. Darüber hinaus ist die Ostdeutsche Sparkassenstiftung mit im Boot und die hessische (!) Klingspor AG. Sinnstiftend angelegtes Geld ist das allemal, denn nicht nur ist eine erhellende Ausstellung im Foyer entstanden, die den Entstehungsprozess des Stückes beleuchtet und zusätzliche Informationen zur nordamerikanischen Geschichte gibt; auch die ins Auge gefasste Reise der Produktion in das Siedlungsgebiet der deutschstämmigen Amerikaner dürfte ohne diese zusätzlichen Mittel nicht finanzierbar sein. Wer allerdings eine Aufführung in der Nähe anstrebt, sollte nicht lange säumen: Am 3. und 4. Juni bietet sich in Radebeul dazu Gelegenheit, am 11.6. in Großenhain, ebenso am 16. und 17. Juni in Meißen im Rahmen der Burgfestspiele.

Der vorletzte Satz gehört der letzten Szene des Stückes, in der die Personen 1 und 2 mit einer Rettungsweste á la Frontex bekleidet auf die auf einem Schiff eingezwängten Auswanderer treffen – die Schicksale auf dem Atlantik des 18. Jahrhundert unterscheiden sich kaum von jenen auf dem Mittelmeer des Jahres 2017. Aber das ist eine Botschaft, für deren Verkündigung es viele wackere Mühlenbergs braucht.

Bertram Kazmirowski

schlechtbescheidenmittelmäßiggutexzellent (1 Wertung(en), Durchschnitt: 5,00 von 5)
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2 Kommentare

  1. Andreas Pohl
    Veröffentlicht am Mo., 12. Juni. 2017 um 14:11 | Permanenter Link

    Als „Community Player“ darf ich noch immer ein Teil dieses Projektes sein. Es macht einen riesen Spaß, gemeinsam mit allen anderen Laiendarstellern – die inzwischen auch gute Freunde geworden sind – und den Profis von den Landesbühnen auf der Bühne zu stehen. Letztere haben uns von Anfang an herzlich aufgenommen und uns das Gefühl vermittelt, als ob wir schon ewig dazugehören. So ist es nun auch nach Wochen intensiver Proben in der Freizeit ein tolles Gefühl, so großartige Feedbacks von Freunden und Bekannten zu diesem Stück zu bekommen – welches im übrigen bisher immer ausverkauft war. Dieser Artikel ist auch nochmal eine schöne Bestätigung zum Erfolg dieses Projektes – welches hoffentlich nicht das letzte dieser Art gewesen ist.

  2. Kathrin Krüger-Mlaou
    Veröffentlicht am Fr., 16. Juni. 2017 um 12:27 | Permanenter Link

    Ich kann mich dem Kommentar von Andreas Pohl voll anschließen. Ich habe die Aufführung schon mehrfach gesehen – unser Sohn ist auch Community Player – und ich bin jedes Mal wieder begeistert und sehr berührt. Die Produktion hat soviel Dramatik und auch aufgelockerte Szenen, ist optisch gut umgesetzt und vereint wahrlich talentierte Schauspieler. Mir gefallen Moritz Gabriel, Utz Pannicke, Holger Uwe Thews und Sophie Lüpfert am Besten. Und ich liebe die Chormusik, die wunderbar stimmig dazu passt und dem Stück emotionale Kraft gibt. Jetzt freuen wir uns auf die Freiluftauftritte u.a. auf der Burg Meißen an diesem Wochenende.

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