Zur Premiere von Brechts „Arturo Ui“ an den Landesbühnen am 25./26.11.2017
Worin besteht die Aufgabe von Theater? Diese Frage ist seit den antiken Anfängen ganz unterschiedlich beantwortet worden. Ging es zunächst darum, in der öffentlichen Vergegenwärtigung krisenhafter Szenarien die Zuschauer in einen Zustand der Katharsis („Reinigung“) zu versetzen, damit sie selbst von unheilvollen Affekten befreit würden, wurden im Mittelalter über Jahrhunderte hinweg überwiegend lustige und handfeste Stoffe unters Volk gebracht. Später dann raunte Schiller vom Theater als moralischer Anstalt, in der die Sittlichkeit und Tugend aus dem Menschlichen bühnenwirksam destilliert werden könnte. Doch diese Hoffnung war spätestens zu Beginn des 20. Jahrhundert endgültig zerstoben, als sich die Gräuel des 1. Weltkrieges mit den Erfahrungen einer zunehmend lebensfeindlich empfundenen Technisierung des Lebens zur ersten großen Erschütterung der Moderne verbanden. Die Folgen für Europa sind bekannt: Revolutionen, Wirtschaftskrise, Stärkung der politischen Ränder. Vor diesem geschichtlichen Hintergrund musste eine neue Theaterauffassung her, die ihren Finger in die Wunden der Gesellschaft legt und dem Theater tagesaktuelle Relevanz verleiht. Wenn man also – wie jüngst die Landesbühnen – Brechts bekannte, im finnischen Exil geschriebene Parabel „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ (1941) auf den Spielplan setzt, geht davon, auch ohne dass man eine einzige Szene gesehen hat, das Signal aus: Es ist etwas faul im Staate Deutschland.
Die Inszenierung von Peter Kube verlegt die Story, die sich – für diese Theaterform typische Verfremdungseffekte nutzend – auf reale Vorkommnisse und beteiligte Personen rund um die Machtergreifung Hitlers und die Ausbreitung des Nationalsozialismus bezieht, in eine verrauchte Hinterzimmerwelt im von Bandenkriegen erschütterten Chicago jener Zeit (Ausstattung: Stefan Wiel). So sehr das der brechtschen Vorlage entspricht, wird meines Erachtens eine Chance vertan: Denn um auf Bedingungen hinzuweisen, die den Aufstieg eines Uis erst ermöglichen bzw. erleichtern, müsste man nicht in der Geschichte kramen und nach Nordamerika zeigen, denn leider bietet auch die Gegenwart reichlich Anschauung. Die Stärke dieser Parabel von Brecht ist ihre Übertragbarkeit auf andere Zusammenhänge, und wer wollte bestreiten, dass es heute viele kleine, aber leider auch einige große und gefährliche Uis gibt auf der Welt? Und dabei denke ich nicht zuerst an den ewigen Alexander Lukaschenko, in dessen Weißrussland immer noch die Todesstrafe verhängt wird, und auch nicht an den notorischen Kim Jong Un mit seinen atomaren Drohgebärden, sondern vor allem an einen Rodrigo Duterte auf den Philippinen, der sich in seinem fanatischen Kampf gegen Drogen selbst stolz mit Hitler vergleicht und begonnen hat, drei Millionen Abhängige umzubringen. Die Inszenierung hätte also mutig(er) sein und darauf (im doppelten Sinne des Wortes) „anspielen“ können, dass nicht nur in Deutschland etwas im Argen liegt, sondern auch andernorts – und zwar in weitaus schlimmeren Maße. Ein Versuch, in dieser Richtung Akzente zu setzen, findet sich wenigsten im Programmheft, denn dort ist von den sogenannten „Paradise Papers“ die Rede, deren Aufdeckung die maltesische Journalistin Caruana Galizia im Oktober dieses Jahres mit ihrem Leben bezahlen musste.
Nun ist es also doch das traditionelle amerikanische Gangstermilieu geworden, und folglich ist die Hälfte der Rollen diesem entlehnt. Michael Berndt-Cananá als Arturo Ui präsentiert sich in bewunderungswürdiger Ausdauer körperlich elastisch, mimisch und gestisch wandlungsfähig sowie sprachlich variabel. In Erinnerung bleibt vor allem die Szene, in der Arturo Ui als menschliches Hakenkreuz etwa fünf Minuten im braunen (!) Ledersessel sitzt. Sebastian Reusse, Grian Duisberg und Marcus Staiger haben dankbare Rollen als einander sehr unterschiedlich markierte Gangster auszufüllen, die sich gegenseitig misstrauen und die Drecksarbeit für Ui erledigen. Tom Hantschel als Dogsborough (lies: Hindenburg) ist staatstragend eitel, dabei aber mächtig machtlos gegen ein Kartell, dass sich einen Dreck um bürgerliche Konventionen schert und munter drauf los erpresst, zündelt und mordet. Ebenso wie sich Dogsborough wider Willen (und besserer Ahnung) zum Steigbügelhalter des Aufstieg Uis macht, so wird dies auch ein völlig unbedarfter Schauspieler, bei dem sich Ui Rat in Rhetorik holt. Diese Szene kostet Matthias Henkel mit Lust zur großen Geste und delikater Dramatik bis zur Neige aus, während Uis zunächst dürftige Voraussetzungen auf diesem Gebiet erst demaskiert werden, nach der Pause aber dessen Wandlung zum gut situierten Gangsterboss sichtbar wird, der auch Worte als Waffen gebraucht. Erwähnt werden sollten auch Sandra Maria Huimann und Julia Vincze, die mit ihren je zwei Rollen weibliche Akzente der unterschiedlichsten Art setzen. Felix, Lydike, Johannes Krobbach und Luca Lehnert ergänzen das Set ebenso wie am Premierenabend Christian Schöbel am Klavier, der mit einem bisweilen ins Dissonante verzerrten Verschnitt von zumeist Scott Jopin-Klassikern das Geschehen kongenial untermalt.
Was bleibt von dieser Produktion? Je nach eigener politischer Haltung und Offenheit dem Thema gegenüber mag es darauf viele Antworten geben. Die Erfahrung, für Mechanismen der Machtanmaßung sensibilisiert worden zu sein. Der Appell zur erhöhten Wachsamkeit bezüglich aller Strömungen, die einen Arturo Ui womöglich auch hierzulande noch einmal nach oben spülen könnten. Die Mahnung, nicht zu vergessen, was einmal war. Das Angebot, in Auseinandersetzung mit dem Bühnengeschehen über sich grundsätzlich als homo politicus nachzudenken. Die Beschwichtigung, dass eine solche Story in einer stabilen Demokratie doch gar nicht mehr möglich ist. Die Frage, wie man den Uis dieser Welt den Boden unter den Füßen wegziehen kann. Das resignierte Seufzen, dass auch politisches Theater trotz aller Aktualitätsbezüge („Lügenpresse!“) immer nur Theater ist und die Bühne nicht mit der Realität verwechselt werden darf. Die Befriedigung darüber, für gutes Geld gut unterhalten worden zu sein. Die Idee, dieses Stück weiterzuempfehlen. Was immer auch jeder einzelne Zuschauer im fast ausverkauften Saal empfand: Der lang anhaltende Schlussapplaus bestätigte, dass die Landesbühnen mit dieser Inszenierung den Nerv des Publikums getroffen zu haben scheinen.
Bertram Kazmirowski