Aus dem Blickwinkel einer ehemaligen Stadtgaleristin (Teil 1)
9. November 1989: Die Mauer ist offen! / 13. November 1989: „Im Verlauf der Durchführung der OPK (operative Personenkontrolle) konnten keine Erkenntnisse hinsichtlich geplanter Aktivitäten des Ehepaares G. gegen die staatl. Sicherheit und Ordnung herausgearbeitet werden. Die Personen bleiben für die KD (Kreisdienststelle) Dresden-Land KK erfaßt“. (aus einer Akte des Staatssicherheitsdienstes der DDR)
„Erzähl mal, wie das so war, damals in der DDR“, fragte mich neulich meine Stieftochter, geboren 1988. Und ich denke so bei mir, dass es damals wohl ein wenig paranoid gewesen ist. Also auch nicht viel anders als heute. Was soll man als Wähler von Plakaten halten, auf denen steht „Hol Dir einen runter, kleiner Antifant! Abreiß Plakat für hirnlose Linksfaschisten!“ Oder wenn man sich ältere Fotos von der Friedensburg anschaut, als diese noch eine Ausflugsgaststätte war, und sieht, wie viele Menschen auf den Terrassen sitzen und bei Kaffee und Kuchen die Aussicht genießen. Jetzt wohnt dort nur noch eine einzige Person. „Alles alternativlos?“ Um da nicht vom Glauben an die Vorzüge der Demokratie abzufallen, sollte man nicht allzu empfindlich sein. Andererseits bedeutet es mir sehr viel für ein Monatsheft wie „Vorschau und Rückblick“ Beiträge zu schreiben und diese, ohne Zensur, veröffentlichen zu können.
Also was kann ich erzählen von dem Land DDR, in dem ich 37 Jahre gelebt habe? Erinnerungssequenzen blitzen auf und ich staune, wie präsent das alles ist, obwohl doch Jahrzehnte dazwischen liegen. Die Wahrnehmung von Zeiträumen ist relativ. So wurde mir erst viel später bewusst, dass gerade mal acht Jahre vor meiner Geburt noch ein gewisser Adolph Hitler an der Macht war, Menschen in Konzentrationslagern vergast wurden und Bomben auf Dresden fielen. Das Mutter und Großmutter nur das nackte Leben retten konnten und in Radebeul mitfühlende Aufnahme fanden. Was mit Parolen wie „Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“ begann, endete 1945 in Schutt und Asche mit Millionen Toten.
Was 1949 mit „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“ für viele Menschen nach einem hoffnungsvollen Neuanfang klang, mündete nach vier Jahrzehnten wiederum in einer großen Enttäuschung. Das es auf dieses kleine Land DDR – welches nicht losgelöst vom Ostblock betrachtet werden kann und durch die BRD erst 1972 offizielle Anerkennung erfuhr – permanenten Druck von Außen gab, ist unbestritten. Doch wann und wie begann sich das System von Innen heraus selbst zu zerstören? Als ich 1953 in Radebeul geboren wurde, knapp eine Woche nach den Ereignissen am 17. Juni, herrschte gerade Ausgangssperre. Was war da eigentlich passiert: Volksaufstand oder Konterrevolution? Irgendetwas muss schon damals schief gelaufen sein. Politisch einschneidend wirkten sich dann auch solche Ereignisse wie 1961 der „Mauerbau“, 1968 der „Prager Frühling“, 1976 das Wiedereinreiseverbot von Wolf Biermann aus. Chancen für Korrekturen wurden vertan.
1989 war es dann zu spät und ein zufälliger Versprecher vom Politbüromitglied Günter Schabowski genügte, um den „Antifaschistischen Schutzwall“ – für alle völlig unerwartet – zu Fall zu bringen. Wer nicht vor Ort dabei sein konnte, saß vorm Fernseher und staunte über irreale Bilder von Trabis, die an entgeisterten Grenzern vorbeifuhren, Menschen, die auf die „Mauer“ kletterten oder sich spontan und glücklich in die Arme fielen. Oh „Freude schöner Götterfunke“ wie schnell bist du verglommen! Schon wenig später begann das Sortieren nach „Ossis“ und „Wessis“, nach „Tätern“ und „Opfern“. Ordnung muss halt sein in deutschen Landen. Erst jüngst wurde ich mit der Frage konfrontiert „Warst du damals auch im Widerstand?“
Um es gleich vorwegzunehmen, ich war keine Revolutionärin und habe demzufolge auch keine Heldinnengeschichte zu bieten. Wo die Grenzen liegen, war mir – so dachte ich zumindest – bewusst. Schließlich hatte ich Mann und Kind. Mein Leben in der DDR war den Bedingungen angepasst und bestand aus gelebtem Alltag. Nicht weniger und auch nicht mehr.
In Erinnerung geblieben sind mir unter anderem: der Luftroller, Butter auf Marken, Juri Gagarin im Weltraum, Ferienlager, Bleistifte und Schulhefte für Kuba, die Griechische Pionierleiterin, Neumann-Eis, Kuchenränder vom Bäcker Hein, der Kaugummi im Laden um die Ecke …später dann der erste Kuss, der Mal- und Zeichenzirkel von Dieter Beirich, durchdiskutierte Nächte bei billigem Obstwein im Atelier von Horst Hille, die Geburt des Sohnes, Kinderfeste mit Freunden und Nachbarn, Plaste-Ansteckblümchen zum Frauentag, der 1. Mai-Umzug, die Faschingsfeiern im „Haus der Werktätigen…“.
Zu den Erinnerungen gehört aber auch das verunsichernde Gefühl, unter ständiger Beobachtung gestanden zu haben. Der Grund für die Überwachung des Ehepaares G. war, wie später in der „Akte“ nachgelesen werden konnte, die „Verbindung zu Kunst- und Kulturschaffenden sowie Personen, die dem politischen Untergrund zugeordnet werden müssen…“.
Die erste Begegnung mit einem „kreativen Solitär“ aus dem so genannten politischen Untergrund erfolgte in Gestalt von Siegfried Schwab. Lange Haare, gebändigt von einem Transmissionsriemen um die Stirn, barfuss in so genannten „Jesuslatschen“ und eingehüllt in den alten Mantel des Großvaters – das fiel auf im ansonsten recht biederen Radebeul. Meine Neugier auf die subversiven Nischen der Provinz war geweckt. Die Bude von “Sigi“ befand sich in einer alten Villa auf der Meißner Straße. Sie war vollgestopft mit Büchern und überall verstreut, lagen eng beschriebene Schreibmaschinenseiten mit Texten, die zum Nachdenken provozierten und deren Durchschläge im kleinen Kreis Verbreitung fanden. Seine Ausreise aus der DDR erfolgte am 30. April 1975. Gewisse Herren hinter den Kulissen konnten erleichtert aufatmen und auch in seinem Stammlokal, der „Lößnitzperle“, zog endlich wieder Ruhe ein. Ein Tafelbild, gemalt von Horst Hille, erinnert an den Radebeuler Dissidenten Siegfried Schwab. Zu sehen war es jüngst in der Stadtgalerie zur Ausstellung „Radebeul geWENDEt“.
Den legendären Biermann-Auftritt erlebte ich in Form einer nächtlichen Wiederholungssendung mit meinem damaligen Mann bei Freunden die Westempfang hatten. Was nach Biermanns Ausbürgerung folgte, ist bekannt. Das Ausmaß der Kettenreaktion war selbst für diejenigen, die sie ausgelöst hatten, kaum vorstellbar. Das DDR-Emblem mit „Hammer, Zirkel, Ährenkranz“ zeigte zwar die gute Absicht. Die Realität sah anders aus. Mit den „Intellektuellen“ wusste man im Staat der Arbeiter- und Bauern nur wenig anzufangen. Allerdings war es wohl dieser politisch verfahrenen Situation geschuldet, dass sich der einst so gefeierte und später geschasste DDR-Star Manfred Krug – der mit einem Teilberufsverbot belegt worden war – kurz vor seiner Ausreise zu einem Konzertauftritt ins Radebeuler Filmtheater „Freundschaft“ verirrte, natürlich zur großen Freude seiner Fangemeinde.
In den 1970er Jahren wanderte ein unscheinbares Taschenbuch von Hand zu Hand. Auf dessen Buchdeckel stand „LTI“ (Lingua Tertii Imperii). Erschienen war es im Reclam-Verlag. Der Autor Victor Klemperer setzte sich darin mit der Sprache des Dritten Reiches auseinander. Wenngleich der Bumerangeffekt bestimmt nicht beabsichtigt war, wirkte es auf uns sehr intensiv. Unmittelbar nach dessen eingehender Lektüre begannen wir damit, das „Neue Deutschland“ (Organ des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands) zu sezieren und noch heute erschrecke ich vor Worten wie „unsere Menschen“, „bedingungsloser Respekt“ oder „Humankapital“.
Zu den Besonderheiten im DDR-Alltag gehörte das „Schlangestehen“. Allerdings bildeten sich die berüchtigten Schlangen nicht nur vorm Gemüsegeschäft, wenn es gerade mal Bananen gab. Schlangen bildeten sich auch auf der Brühlschen Terrasse, wenn die DDR-Kunstausstellung lief. Ob heute noch so viele Menschen leidenschaftlich über Kunst diskutieren, wage ich zu bezweifeln. Die Eröffnungsreden und Rezensionen von Ingrid Wenzkat, Dr. Fritz Löffler, Dieter Schmidt und Dieter Hoffmann wurden zum Kult. Das so genannte „Zwischen-den-Zeilen-lesen“ gehörte zu den ausgeprägten Fähigkeiten breiter Bevölkerungsschichten.
Kunst und Kultur waren in der DDR weder Privileg noch Sahnehäubchen. Die „neuen Menschen“ sollten im Sozialismus zu allseitig gebildeten Persönlichkeiten erzogen werden. Das staatlich geförderte Volkskunstschaffen bot ein immer breiter werdendes kreatives Betätigungsfeld. In einer Sonderausgabe des Monatsheftes „Die Vorschau“ ist aufgelistet, dass 1959 in Radebeul 8 Chöre, 10 Musikgruppen, 3 Dramatische Zirkel, 5 Agitpropgruppen, 4 Tanzgruppen, 2 Mal- und Zeichenzirkel, 4 Handarbeitszirkel und 1 Arbeitsgruppe Indianistik existierten. Eine analytische Betrachtung zum Radebeuler Volkskunstschaffen über den gesamten Zeitraum von 40 Jahren wäre wohl sehr interessant, soll aber nicht Gegenstand dieser vierteiligen Beitragsfolge sein. Das die kreative Selbstbetätigung den Lebensalltag vieler Menschen bereichert hat und die Wahrnehmung kultureller Angebote nicht vom Geldbeutel abhängig war, gehört zu den unbestrittenen Tatsachen, die man nicht vergessen darf, wenn man davon erzählt, wie das so war, damals in der DDR.
(Fortsetzung folgt)
Karin (Gerhardt) Baum
Bildunterschriften
Horst Hille „Klaustrophobie“, 1985, Radierung
Johannes Thaut „Volkstanzgruppe“, um 1960, Holzschnitt