Perspektivwechsel

Eine Weihnachtsgeschichte aus unserer Zeit
An der Kasse war es dann doch überraschend schnell gegangen, der vollgepackte Wagen mit dem Feiertagseinkauf musste nur noch zum Auto gerollt werden. Er ging noch einmal die Einkaufsliste durch – ja, er hatte an alles gedacht. Norwegischer Bio-Lachs für Heiligabend, Geflügel aus regionaler Schlachtung für den ersten und Grillgemüse mit Schupfnudeln für den zweiten Feiertag, dazu gute Weine, Obst, Brötchen, Brot, Milchprodukte und Aufstriche für vier Tage. Weihnachten konnte kommen. Ziemlich teuer das Ganze, dachte er, aber was soll’s. Man gönnt sich ja sonst nichts. Wozu geht man arbeiten. Bloß gut, dachte er, dass er nicht so genau auf den Cent schauen musste. Er bedauerte insgeheim diejenigen, die sehr genau überlegen und rechnen mussten. Ein Netz mit 1,5 kg Orangen oder doch lieber acht Äpfel in der Pappschale? Für ihn stellte sich die Frage nicht, er hatte beides mitgenommen. Er hatte sich an der Supermarktkasse beim Warten umgeschaut und gewundert, was andere Leute vor ihm so auf das Band legen. Der schlecht rasierte alte Mann. Die junge Mutter mit zwei quengelnden Kindern. Die Frau mit den strähnigen Haaren hinter ihm. Sollten das tatsächlich Weihnachtseinkäufe sein? Er war schon auf dem Weg zum Auto, als er sich erinnerte, dass er noch Fahrkarten für die Straßenbahn kaufen wollte, in der Innenstadt würde man schlecht parken können. Eine 4er-Karte, damit er sich am Abend nicht darum kümmern müsste. Er stellte fest, dass ihm auch Bargeld fehlte. Nach der Christvesper wollte er wie immer etwas in den Korb am Ausgang werfen. Wie sagte der Pfarrer immer? „Es darf gerne rascheln.“ Er schob den Wagen zum Geldautomaten und tippte den Betrag ein. Ein Bekannter grüßte im Vorübergehen, wünschte „Frohe Weihnachten“, im Reden nahm er die Karte aus dem Schlitz, steckte sie ein, wandte sich wieder dem Bekannten zu, sie gingen scherzend nach Draußen, ein Händedruck und schon packte er alles in seinen Tesla. Er brachte den Einkaufswagen zurück und ging zum Fahrkartenautomaten. Er traf die Auswahl und wurde zur Zahlung aufgefordert. Das Portemonnaie aber war leer. Die paar Münzen reichten nicht.
Jedes Jahr das Gleiche. Weihnachten steht vor der Tür und hinten und vorn fehlt das Geld. Ach was, schlimmer wird’s mit jedem Jahr. Was soll’s, sagte sie, es wird schon gehen. Wie es halt immer gegangen ist. Süßkram für die Enkel, für Tochter und Sohn irgendwelche Artikel aus der Werbung. Vielleicht kann Yvonne ja doch eine neue Küchenwaage gebrauchen. Die hier sieht ja ganz gut aus und ist sogar von einer Marke. Für Marco ein Set mit Schrauben und Dübeln. Wo er doch immer so gern handwerkt. Das braucht er sicher. Irgendwann mal. Oder auch nicht. Sie seufzte und beruhigte sich mit dem Gedanken, dass es auf die Geste ankäme. Für sich selbst erwartete sie gar nichts. Besser so, als dann enttäuscht werden. Sie stand an der Kassenschlange und schaute sich um. Der Mann vor ihr, was sich der alles leisten kann. Lachs. Geflügel von der Frischtheke wie es scheint, Wein und sonstwas. Der verdient bestimmt gut. Hat der’s gut. Packt sich seinen Wagen voll und macht sich’n Lenz mit seiner Familie. Wenn der wüsste, wie es anderen Leuten geht. Der kennt das gar nicht. Muss sich nicht überlegen, ob 1,5 Kilo Orangen oder 1 Kilogramm Äpfel. Der nimmt einfach beides. Jetzt bezahlt er. Für den Betrag würde sie Sachen für drei Wochen holen. Weg isser. Dann war sie an der Reihe. Es dauerte nicht lange und sie hatte bezahlt. Bar natürlich. Sie packte ein und dachte eine Weile nach. Eigentlich müsste sie noch zum Bäcker, wenigstens einen halben Stollen für Heiligabend und die Feiertage. Das Geld im Portemonnaie reichte nicht, also musste sie Geld holen. Sie überschlug den Kontostand im Kopf. Noch vier Werktage bis wieder Geld vom Amt kam. 20 Euro müssen reichen, dachte sie, und ging zum Geldautomaten. Niemand stand dort, sie würde nicht warten müssen. Sie war noch gar nicht richtig angekommen, da sah sie im Geldausgabeschlitz ein Bündel Scheine. Sie nahm es, blickte sich um. Wer war vor ihr dort gewesen? Sie wartete. Würde jemand kommen? Sie wartete. Was sollte sie machen? Sie wartete und dachte dabei an den Stollen. Sie dachte daran, was sich ihre Enkel vom Weihnachtsmann gewünscht hatten. Sie dachte an Yvonne und Marco und wie die beiden schufteten und dann doch kaum etwas am Monatsende übrig blieb. Sie dachte auch daran, was sie sich so sehnlich wünschte. So lange war sie schon nicht mehr beim Friseur gewesen. Sie blickte sich um, nahm das Geld, steckte es ein und ging.
Offenbar hatte er das Geld liegen lassen. Wie dumm! Er beruhigte sich mit dem Gedanken, dass ihm das noch nie passiert war. Schnellen Schrittes ging er wieder zum Geldautomaten, vielleicht war das Geld noch da. Es war weg. Er ärgerte sich über sich selbst und kurz darauf hob er die gleiche Summe noch einmal ab, steckte das Geld ein, holte sich die Fahrkarten und ging Richtung Parkplatz. Vielleicht hat das Geld jemand gefunden, der es gut gebrauchen kann, dachte er bei sich. Bei dieser Vorstellung wurde ihm etwas wohler zumute und es durchzuckte ihn in der Gedanken, als würde seine Vergesslichkeit womöglich etwas mit Weihnachten zu tun haben. Auf dem Weg zurück zum Auto musste er beim Friseur vorbei. Durch die Scheiben erkannte er die Frau mit den strähnigen Haaren wieder. Sie schien sehr glücklich zu sein, denn sie lächelte versonnen vor sich hin. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Es wurde das schönste Weihnachtsfest seit langem. Für beide.

Bertram Kazmirowski

 

Ehrung für Robert Bialek

Robert Bialek, flankiert von Barbara Meyer und Andreas Brzezinski, Foto: Rico Thumser/Leipzig

Auf der Denkmalmesse in Leipzig wurde der Radebeuler Baumeister* Robert Bialek (Chef eines Baubetriebes in Coswig) am 8. November 2024 mit einem Sonderpreis für Putzarbeiten und Putzgestaltung ausgezeichnet. Eingereicht hatte er seine Arbeit zur Erhaltung bzw. Erneuerung eines Putzbildes (Sgrafitto) des Künstlers Hermann Glöckner von 1955. Hierbei handelt es sich um ein großes, dreilagiges Putzbild am ehem. Klubhaus des AWD, Turnerweg 1, in Radebeul. Er hat damit eine alte, fast vergessene künstlerische Putzgestaltung wieder aufleben lassen.
Die Ehrung Bialeks wurde mit einer Urkunde in Leipzig in feierlicher Form von Barbara Meyer, Staatssekretärin im Sächsischen Staatsministerium für Regionalentwicklung und Andreas Brzezinski, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Dresden vorgenommen.
In Radebeul ist Robert Bialek, ganz abgesehen von der og. Arbeit, längst kein Unbekannter mehr. Stellvertretend seien hier seine Baustellen am Haus Kynast, am Bismarckturm und die laufende Arbeit am Pavillon des Mohrenhauses genannt. Dazu kommt auch seine langjährige Mitarbeit im Radebeuler „verein für denkmalpflege und neues bauen“.
Wir gratulieren Robert Bialek ganz herzlich zu der besonderen Ehrung!

Petra Ploschenz und Dietrich Lohse

* Die alte Berufsbezeichnung wurde bewußt angewendet, weil alte Häuser „sein Ding“ sind.

Zusammen 52 Jahre im Dienst von „Vorschau & Rückblick“

Dietrich Lohse und Karl Uwe Baum feiern einen runden Geburtstag

Karl Uwe Baum

Dietrich Lohse

Sein Entschluss, am 31. März 1990 zur Eröffnung einer Fotoausstellung in das Schloss Hoflößnitz zu gehen, sollte für Dietrich Lohse ungeahnte Folgen haben, denn sein Besuch mündete schließlich in einem Beitrag im Juni-Heft der gerade erst aus der Taufe gehobenen Monatszeitschrift „Vorschau & Rückblick“. Unter der Überschrift „Ein Kompliment für die Fotografin“ fasste der Autor seine Eindrücke des Samstagabends unterhalb der Weinberge zusammen. Was er damals wohl selbst nie für möglich gehalten hätte: Knapp 35 Jahre später ist Dietz, wie er von allen von uns kurz und bündig genannt wird, immer noch Mitglied der Redaktion! Langjährige Leserinnen und Leser kennen Dietrich Lohse vor allem als unseren Mann für Denkmalpflege, Baugeschichte und architektonische Details, aber in den Anfangsjahren waren auch eine Reihe von Ausstellungsrezensionen und Personenporträts dabei. Viele werden sich auch erinnern, dass wir Dietrich Lohse mehrere Jahrgänge an Titelbildern zu verdanken haben. 2025 wird er wiederum das Heft auf diese Weise prägen, und zwar mit einer Auswahl an historischen Radebeuler Winzerhäusern, begleitet von sachkundigen Kommentaren.
Was Karl Uwe Baum am 31. März 1990 machte, ist nicht überliefert. Vielleicht saß er zu der Zeit, als Dietz Lohse in der Hoflößnitz weilte, gerade an Unterlagen und brütete darüber, wie man am besten einen Landesverband Amateurtheater gründet. Denn dieses Thema trieb den begeisterten Laienschauspieler damals und die Folgejahre um. Vielleicht auch deshalb dauerte es ziemlich genau 17 Jahre, bevor sich KUB erstmals in unserem Heft zu Wort meldete. Prominent auf S. 1 im April-Heft 2007 platziert, formulierte der Autor unter der Überschrift „Genussvolles Monatsheft“ seine Gedanken zu einem Beitrag, der im März erschienen war und sich kritisch mit kulturpolitischen Entwicklungen in Radebeul befasst hatte. Interessant ist, dass Karl Uwe Baum den im letzten Satz seines Beitrages geäußerten Vorsatz „Weiter so!“ nach und nach begann, selbst in die Tat umzusetzen, denn aus einer anfänglich nur losen Verbindung mit der Redaktion wurde mit den Jahren ein stetig engagierteres Mittun und Mitdenken. Wenn es in Radebeul jemanden gibt, der sich traut mit spitzer Feder Missstände anzuprangern und Fehlentwicklungen aufs Korn zu nehmen, dann ist es Karl Uwe, unser Spezialist für Kommunal- und Kulturpolitik.
So sehr sich die beiden Redaktionskollegen vom Temperament auch unterscheiden, eines haben sie gemeinsam: Sie feiern in den Tagen zwischen Heiligabend und Neujahr jeweils ihren 80. Geburtstag! Lieber Dietz und lieber Karl Uwe: Wir danken euch für zusammen 52 Jahre treuer Autorschaft für unser Heft, gratulieren euch von Herzen und wünschen euch Lebensfreude im Prozess stetiger Reifung, Begegnungen mit heiteren Musen, die euch küssen und zum Schreiben verführen und vielfältige Erfahrungen mit den Genüssen des (Älter)Seins!

Für Redaktion und Verein
Bertram Kazmirowski

Gedenkausstellung „Wandlungen“

Ingo Kuczera in seinem Atelier auf der Gartenstraße, 2001, Foto Thomas Adler

Zum 60. Geburtstag und 20. Todestag des Radebeuler Malers Ingo Kuczera

Den Schwerpunkt der Gedenkausstellung in der Radebeuler Stadtgalerie bilden die Werke der großzügigen Schenkung von Ingo Kuczeras Erbengemeinschaft an die Städtische Kunstsammlung Radebeul. Eine Ergänzung erfolgt durch Leihgaben aus vier privaten Sammlungen.
Die Kunstexponate umspannen den Entstehungszeitraum von 1984 bis 2004. Gezeigt werden Bilder, Grafiken, Objekte, Entwürfe, Illustrationen, Modelle und Dokumente. Aber auch Alltagsgegenstände wie Ingo Kuczeras Garderobe mit Kutte und Schal sowie sein roter Wasserkocher beleben die Präsentation.
Die Zeit, in der ich Ingo Kuczera unmittelbar und recht intensiv erlebt habe, war relativ kurz. Zunächst hatte ich ab und an eigenwillige Bilder und Zeichnungen von ihm bemerkt. Erstmals war das 1991 im Café Color auf der Gartenstraße, welches der Kulturjournalist Wolfgang Zimmermann betrieb. Dass Ingo dort ausstellte, lag nahe, befand sich sein Wohnatelier doch ebenfalls auf der Gartenstraße.

Die Elbe bebaut die Berge um Radebeul“, 1999, Tempera, Repro: Archiv Baum

Ohne Titel (männliche Halbfigur, Kopf, Baum) 2001 Gouache, Faserstift, Repro: Archiv Baum

Den Künstler Ingo Kuczera habe ich als Person bewusst wahrgenommen, nachdem die Radebeuler Stadtgalerie 1997 am neuen Standort in Altkötzschenbroda wiedereröffnet wurde. Von 1998 bis 1999 sowie von 2001 bis 2002 wurden für Ingo Kuczera Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) in der Stadtgalerie bewilligt.
Er selbst verstand sich als Bindeglied zwischen städtischer Galerie und Künstlerschaft. Maßgeblich wirkte Ingo Kuczera an der Konzipierung und Realisierung der thematischen Sommerprojekte mit. Dazu gehörte auch die Gestaltung des Galeriehofes als eine Art Open-Air-Galerie. Dafür sind viele Bilder auf großformatigen Sperrholzplatten entstanden, welche allerdings immer wieder übermalt wurden.
Angeregt zum Ausstellungstitel „Wandlungen“ hatte uns ein Tafelbild, welches Ingo auf eine – der bereits erwähnten großformatigen Sperrholzplatten – gemalt hatte. Beim Abbau des alten Schuppens im Galeriehof wurde es wiederentdeckt. Allen bisherigen Übermalungs- und Entsorgungsaktionen zum Trotz, hatte es sich in Funktion einer Schuppentrennwand erhalten und fand schließlich im Depot der Kunstsammlung einen sicheren Platz. Dessen Präsentation im Rahmen einer Ausstellung erfolgt nunmehr zum allerersten Mal.
Am 25.8.2000 schreibt Ingo in sein Tagebuch: „Arbeite seit 1 Woche an 5 Bildern für den Galeriehof. Gutes Gefühl!!! Sonne scheint, Kaffee kocht, Farbe wird bezahlt und alle sind gespannt und anteilnehmend – wie ich.“.

Im Jahr 2002 stand das thematische Gemeinschaftsprojekt unter dem Motto „Radebeul – total global?“. Die Eröffnungsveranstaltung begann im Bahnhof Radebeul-West. Eine Harfenistin und der Saxofonist Micha Schulz musizierten zur Verwunderung der Fahrgäste auf den Treppen zu den Bahnsteigen. In den heute nicht mehr begehbaren Tunnel hängten wir Textbahnen von Ju Sobing. Die Säulen in der Bahnhofshalle wurden mit Bildern von Johanna Mittag verschönt, die dann – letztendlich gestohlen worden sind. Die Verbindungsstrecke zwischen Bahnhof und Galerie hatte Ingo mit bizarrem Schwemmgut aus der Elbe drapiert. Das Ganze mündete natürlich in ein wunderbares Künstlerfest und in der Stadtgalerie war adäquat zur Thematik eine Gemeinschaftsausstellung mit Werken von 20 Künstlern zu sehen.
Ingo Kuczera fühlte sich wohl und angenommen, was sich auch auf seine Schaffensfreude ausgewirkt hat. Aus der dienstlichen entwickelte sich allmählich eine freundschaftsähnliche Beziehung. Gemeinsam sind wir durch die kleinen Dresdner Galerien gezogen und haben uns über das Gesehene sehr intensiv ausgetauscht. Ingo besaß ein sicheres künstlerisches Urteilsvermögen und eine große Portion hintergründigen Humor. Wenngleich Beuys sein Idol zu sein schien, war er sehr offen für aktuelle Tendenzen in der Kunst. Auch die älteren Künstler wie Wigand, Glöckner, Wittig, Weidensdorfer oder Graf interessierten ihn sehr.

Ohne Titel (Komposition), 2002, Acryl, Gouache, Bleistift, Faserstift, Repro: Archiv Baum

Kuczera, der zunächst eine Schlosserlehre absolviert hatte, war künstlerisch talentiert, daran bestand kein Zweifel und so strebte er die Ausbildung zum

Ohne Titel (Trinker) 2003, Acryl auf Pappe, Bildausschnitt, Repro: Archiv Baum

Bildenden Künstler an. Die Zeichenzirkelzeit in Rathenow war intensiv. Seinem Lehrer Gerhard Hentschel verdankt Ingo ein solides Fundament.
Was zunächst so hoffnungsvoll begann, geriet schließlich ins Stocken. Die Bewerbungen an den Kunsthochschulen in Berlin und Dresden schlugen fehl. Allerdings meinte Claus Weidensdorfer im Nachhinein: Zum Glück! Was hätte ein Künstler wie Ingo dort auch lernen sollen?
Letztlich bekannte sich Ingo dazu, ein Autodidakt zu sein, schließlich hätten van Gogh, Modigliani oder Ebert auch nicht studiert.
Die Erinnerung an Ingo Kuczera schließt die Erinnerung an Dr. Dieter Schubert ein. Schützend hielt er als Amtsleiter für Bildung und Kultur während der ABM-Zeit immer wieder seine Hände über Ingo, der in kein Behördenraster passte! Ingo war ein Nachtmensch. Alkohol diente oftmals als Stimuli, und all das bot reichlich Konfliktpotenzial.
Besonders spannend wurde es, als 1999 im übernächsten Grundstück (Altkötzschenbroda 23) die Werkstattgalerie „Atelier Oberlicht“ eröffnet wurde. Neben Ingo Kuczera gehörten zu der Künstlergemeinschaft zunächst Frank Hruschka, Markus Retzlaff, Nikolai Bachmann, Homayon Aatifi und Julius Hempel. Spiritus Rektor war Frank Hruschka. Er hatte die Intention oder besser gesagt die Illusion, dass Künstler an einem Ort in einer Gemeinschaft arbeiten, sich permanent austauschen, anregen, präsentieren und vermarkten. Was folgte, waren interessante Projekte und nächtelange Diskussionen über Kunst. Wobei Letzteres für Ingo nicht unwesentlich gewesen sein dürfte. Dabei wurde viel geraucht, getrunken und auch gestritten. Von allen sechs Künstlern ist Ingo Kuczeras enger Freund und Kollege, Markus Retzlaff, der Einzige, der bis heute im Oberlicht künstlerisch tätig ist.

Schon die wenigen Auszüge aus dem Tagebuch, lassen Ingo Kuczeras Gefährdung und Verletzlichkeit erahnen. Ingo wollte die Menschen mit seiner Kunst überraschen und anrühren. Sein Credo: Es muss eine Poesie in die Welt! Das ist klar! Liebe und so!
Vor allem Gedichte von Heine, Rilke, Hölderlin und Heym haben ihn sehr inspiriert. In der letzten Zeit spielte er immer wieder Chansons von Edith Piaf.
Ingos psychische als auch körperliche Verfassung war wechselhaft. Seinen 40. Geburtstag feierte Ingo am 3. November 2004 im engsten Kreis und am 6. November folgte eine weitere Feier im “Atelier Oberlicht“, die mit einer Kabinettausstellung neuester Arbeiten verbunden war. Zum Grafikmarkt wiederum, der am 6. und 7. November stattfand, hatte Ingo wohl gar nichts verkauft und war sehr enttäuscht.
Ingo Kuczeras plötzlicher Tod am 10. November 2004 löste große Betroffenheit aus. Künstler wie Peter Graf und Christiane Latendorf drückten ihre Gefühle in sehr berührenden Bildern aus, die ebenfalls in dieser Gedenkausstellung zu sehen sind.
Zu Ingos Beerdigung in Premnitz hatten Angehörige und enge Freunde eine Fahrgemeinschaft gebildet. Der Friedhof erinnerte an einige von Ingos melancholischen Bildern und wirkte auf mich sehr bedrückend.
Schon bald stand die Frage an – Wie weiter? Die bevorstehende Haushaltauflösung mahnte zur Eile. Wir hatten alle keine Erfahrungen im Umgang mit einer solchen Situation. Doch dann geschah Erstaunliches.
Aus den ersten Kontakten, die zu den Angehörigen geknüpft wurden, entwickelte sich ein vertrauensvolles Miteinander. Die Erbengemeinschaft, vertreten durch Antje Zimmermann, erwies sich als umsichtig, aufgeschlossen, zuverlässig und – außergewöhnlich beharrlich. Die Radebeuler Stadtverwaltung wiederum bot personelle und räumliche Unterstützung an. Im Jahr 2005 wurde dann damit begonnen, Ingos Kunstwerke in die Stadtgalerie umzusetzen. In beiden Etagen wuchsen die Bilderstapel beträchtlich. Wie intensiv Ingo gearbeitet hatte, wurde uns erst nach seinem Tode bewusst.
Weit über 4.000 Arbeiten galt es zu sortieren, zu vermessen, zu fotografieren und zeitlich einzuordnen. Geholfen hatten damals u. a. Ingos Partnerin, die Bildhauerin Manuela Neumann, der Maler und Grafiker Markus Retzlaff sowie die Vorsitzende des Radebeuler Kunstvereins Ingeborg Bielmeier.

Ohne Titel (Figuren und Instrumente), 2003, Acryl, Gouache auf Sperrholz, Repro: Archiv Baum

Für das Engagement bei der Erfassung des künstlerischen Nachlasses und für die Erstellung eines Kataloges wurde die Stadt Radebeul von der Erbengemeinschaft mit einer großzügigen Schenkung für die Städtische Kunstsammlung belohnt.
Die Herausgabe des Kataloges erfolgte im Eigenverlag der Stadtgalerie. Mitgewirkt hatten daran: die Druckerei WDS Pertermann, die Versuchsdruckerei von KBA Planeta, die Lößnitzdruckerei und die Artothek Frank Hruschka. Finanzielle Unterstützung kam durch die Stadt Radebeul, den Kulturraum Elbtal, den Förderkreis der Stadtgalerie und das Kunsthaus Kötzschenbroda.
Obwohl nunmehr fast zwei Jahrzehnte vergangen sind, bildete der Katalog für die Gedenkausstellung eine wichtige Arbeitsgrundlage. Tagebucheintragungen des Künstlers sowie Gedanken und Erinnerungen von Freunden, Künstlerkollegen, Angehörigen und Wegbegleitern tragen zum Verständnis des künstlerischen Werkes bei.
Die Ausstellung zeigt Arbeiten aus verschiedenen Schaffensabschnitten. Während in den frühen Jahren vorwiegend kleinere Formate auf Papier entstanden sind und eine erdige Farbgebung dominiert, verblüfft das Spätwerk durch kompakte Großformate, häufig in gewagten Grün- und Blaunuancierungen. Der Phase des Experimentierens mit abstrakten Elementen folgte die erneute Hinwendung zur erzählerischen Gegenständlichkeit. Steigende, schwebende, fallende Figuren durchqueren surreale Landschaften. Große Formen kontrastieren mit verspielten Details, schmückenden Ornamente und zarte Strukturen. Menschen, Tiere und Pflanzen gehen symbiotische Beziehungen ein. Vor allem Frauen bilden für ihn ein unerschöpfliches Thema. Tiere wie Einhorn, Schwan und Delphin tragen symbolischen Charakter. Aus Ingo Kuczeras Bildern spricht die romantische Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit. Und manche Bilder bergen Geheimnisse, die Geheimnisse bleiben sollten, wie sein Künstlerkollege Peter Graf einmal geäußert hat.
Für die Möglichkeit, dass ich diese Gedenkausstellung maßgeblich mitgestalten durfte, bin ich dem Zweier-Team der Stadtgalerie, Magdalena Pieper und Alexander Lange, sehr dankbar. Viele neue Zusammenhänge haben sich mir dadurch bereichernd erschlossen.
Heinz Weißflog schrieb 2007 in einer Rezension über Ingo Kuczera: „Er war unglücklich im Leben, aber erfüllt in seiner Arbeit, die ihn bis zuletzt trug.“.
Ingo selbst schrieb am 20.3.1997 in sein Tagebuch: „Ich möchte, daß man über meine Bilder einmal sagen kann – sie wären wie ein leiser Abgesang und wie ein letztes Dankeschön an eine versinkende Welt.“.
Ingo Kuczera hinterließ ein starkes eigenwilliges Werk, dass es weiterhin zu ergründen gilt. Ausstellungen fanden nach seinem Ableben in Radebeul, Meißen, Dresden, Medingen, Radeberg, Erfurt und Weimar statt. Zahlreiche Arbeiten wurden in öffentliche Sammlungen übernommen. Allen, die dazu beitragen, dass Ingo Kuczeras Kunst bewahrt wird und in der Öffentlichkeit ihre Wirkung entfalten kann, sei hiermit herzlich gedankt.

Karin (Gerhardt) Baum


Der Ingo-Kuczera-Katalog „Bilderrauschen“ aus dem Jahr 2006 umfasst 128 Seiten und ist während des Ausstellungszeitraumes zum Vorzugspreis von 10 Euro in der Stadtgalerie erhältlich.
Und außerdem:

7.1.-19.1.2025
Ingo-Kuczera- Gedenkausstellung in der Stadtgalerie Radebeul
j
16.1.2025, 19 Uhr
ART ROOM – Film-Projekt „Mit Künstlern im Gespräch“

19.1.2025, 16 Uhr
Kuratorenführung durch die Ausstellung mit Alexander Lange und Karin Baum

3.1.-15.2.2025
Ingo-Kuczera-Gedenkausstellung in der Galerie Hebecker, Weimar

Editorial 01-25

Liebe Leserinnen und Leser,

für meine Familie und mich war 2024 ein ganz besonderes Weihnachtsfest- weil es ein ganz besonderes Jahr war.
Im Januar trat ich meinen Dienst als Pfarrer in Radebeul an, im Februar zogen wir um, vom beschaulichen Dorf auf den quirligen Anger.
Der Frühling kam, der Flieder blühte und die Sorge, ob die Kinder gut ankommen, legte sich.
Es wurde Sommer und wir genossen das südlich-lässige Flair zwischen Anker und Oberschänke.
Der August holte gegen Ende nochmal aus und an einem heißen Mittwoch duckte sich ein handtellergroßes Kätzchen im Pfarrhof unter den Postkasten. Wie bestellt! Willkommen Minki!
Der Herbst kam und das große Fest mit ihm – wir staunten und ließen uns gern mitreißen. Ich lernte die Bräuche und Protagonistinnen kennen, zwischen Oberbürgermeister, Bacchus und Weinköniginnen fand ich meinen Platz.
Der trübe November war fast nicht mehr auszuhalten – am Totensonntag stand ich mit den Posaunen auf dem Friedhof – dann kam endlich der Advent.
Die zweite Initiation in die kleine Stadtgesellschaft.
Budenglanz und Lichterzauber?
Wo parke ich? Wann gehe ich einkaufen?
Muss ich jeden Glühweinstand probiert haben?
Ein irres Jahr war das. Alles zum ersten Mal.
So viele Begegnungen, so freundliche Menschen, so offene Arme.
So viel Liebe.
Alles, was ihr tut, das geschehe in Liebe.
Dieses Wort hat uns Christenmenschen als Losung durch das Jahr 2024 begleitet.
Es tröstet, dass es wohl keinen unter uns gibt, der ihm gänzlich gerecht werden konnte.
Und irgendwie will ich es doch auch ins nächste Jahr mitnehmen.
Selbst wenn Sie mit Gott und dem Krippenkind nichts anfangen können, dann halten Sie es einfach mit dem Autor des Kleinen Prinzen, Antoine de Saint-Exupéry: „Sehnsucht nach Liebe ist Liebe. Und siehe, du bist schon gerettet, wenn du versuchst, der Liebe entgegenzuwandern.“
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein liebevolles und gesegnetes neues Jahr 2025.

Ihr Pfr. Martin Scheiter

»Paul Wilhelm – im Garten seiner Kunst«

Annerose und Gottfried Klitzsch laden wieder in die Villa Hohe Str. 35 ein

Das Radebeuler Kulturleben ist bekanntermaßen reich- und abwechslungsreich. Und dennoch gibt es gelegentlich Ereignisse, die ihre ganz eigene Note haben und gewissermaßen die Kirsche auf der »kulturellen Torte« darstellen.

Zur Ausstellungseröffnung mit Sammler Gottfried Klitzsch rechts im Bild
Foto: S. Graedtke

So geschehen am 15.11. um 16 Uhr in der privaten Villa Hohe Straße 35 zur Ausstellungseröffnung »Paul Wilhelm – im Garten seiner Kunst«.

Kunstinteressierte Mitbürger erinnern sich bestimmt, dass bereits 2015 und 2016 zwei umfängliche Ausstellungen hier realisiert wurden. Während 2015 aus Anlass seines 50. Todestages des Radebeuler Malers Paul Wilhelm (1886-1965) und dessen Aquarelle Gegenstand der Betrachtung waren, richtete sich das Augenmerk 2016 auf die »Künstlerhäusler« Hermann Glöckner (1889-1987) und Helmut Schmidt-Kirstein (1909-1985). Beleuchtet wurden bisher kaum wahrgenommene Affinitäten ebenso wie Charakteristisches beider Künstler.

Nun, nach längerer Pause, laden Annerose und Gottfried Klitzsch erneut in das Obergeschoss der vorzüglich restaurierten Villa in der Hohen Straße ein. Die Etage ist gänzlich der Kunst geweiht und präsentiert in den gediegenen Räumlichkeiten mit Parkett, Kronleuchtern und antikem Ofen in dichter Hängung über 80 Ölgemälde einen weitgespannten Bogen aus unterschiedlichsten Schaffensperioden des Künstlers. Reisen nach Italien, Frankreich, Österreich und England wirkten nachhaltig in die Arbeiten der 1920er und 30er Jahre ein, insbesonders in den Lößnitzbildern. Der exquisite Umgang mit einer nuancierten Palette fein abgestimmter Erdfarben geben der Handschrift des Künstlers ihr unverwechselbares Gepräge.

Der Gastgeber, Kunstliebhaber und Sammler Gottfried Klitzsch führte zur Ausstellungseröffnung ausführlich in das Werk des Künstlers und seiner Lebenswelt ein. So wurden auch die thematisierten Hauptmotive von Gärten und Blumen, allen voran der Rittersporn oder die zahlreichen geradezu psychologisch durchdrungenen Porträts seiner Frau Marion verständlich. Zudem sind Radebeuler Häuser und Grundstücke zum Teil derart realistisch wiedergegeben, dass einige Bilder ein getreues Abbild der stadtgeschichtlichen Entwicklung repräsentieren.

Zur Ausstellung ist ein umfangreicher, gebundener Katalog (392 S./ 45€) mit Schutzumschlag und einer Fülle privater Fotos aus dem Künstlerleben der Wilhelms erschienen, der vor Ort oder per Zusendung zu erwerben ist.

Im Gedenken an den Künstler ist in Radebeul übrigens der Prof.-Wilhelm-Ring sowie der »Paul-Wilhelm-Flügel« im Luthersaal der Friedenskirche im kulturellen Gedächtnis der Stadt verankert.

Sascha Graedtke

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AUSSTELLUNG DRESDNER KUNST
Hohe Str. 35
01445 Radebeul-West
Öffnungszeiten:
16.11.-15.12.2024 | 4.1.-9.3.2025
geöffnet SA & SO 11-18 Uhr

Mit Stephan Krawczyk poetisch durch das Jahr

Zum Titelbild

„Dich schickt mir der Himmel!“ – Wer von uns allen hätte einen solchen Satz noch nie gesprochen? Wem wäre noch nie die helfende Hand eines „rettenden Engels“ erschienen?

Als Mittler zwischen unserer Wirklichkeit und den uns – wer weiß – umgebenden „Überwirklichkeiten“ sind Engel Boten des Himmels. Mancherorts werden sie ganz als Lichtgestalten betrachtet. Etwa seit dem vierten nachchristlichen Jahrhundert zeigen sie sich in der Kunst als geflügelte Wesen. Als Spender von Trost und unvermuteter Hilfe sind sie nun auch aus dem säkularisierten Alltag nicht mehr wegzudenken.

Im Dezember, dem Monat, in dem die Ankunft des Erlösers ins Haus steht, haben sie besondere Konjunktur: Aus allen Stubenfenstern strahlen Lichterengel und erhellen die Nacht. Es gibt keinen Bäcker, der es sich nehmen ließe, Engelflügel mit Zucker zu überziehen und keine Geschäftsauslage, in der nicht ein oder zwei Engelkapellen musizierten.

Zur Jahrtausendwende hat der Grafiker Michael Hofmann den Engeln eine ganze Serie großformatiger Farbholzschnitte gewidmet. Schon in den Jahren zuvor hatte er sich mit kleineren Arbeiten dem Thema genähert. Besonders mit Blättern wie diesen taucht der Künstler ganz tief ein in die Tradition der Holzschneidekunst.

Die Stadt liegt in tiefem Schlaf. Stille herrscht in allen Straßen und auch die Kirche schweigt unter dem zarten Klang der himmlischen Posaune. Doch so manche der Schläfer hinter den stummen Fenstern werden mit einem frohen Lächeln im Gesicht erwachen, das lange Zeit nicht vergehen wird.

„Ein Engel fliegt über die Stadt“ – besseres kann ihr in diesen Tagen nicht geschehen. (1655)

Thomas Gerlach

Vorschau auf die Titelbilder im Jahr 2025

An dieser Stelle wollen wir einen Blick auf die zu Ende gehende grafische Titelbildserie des Künstlers Michael Hofmann werfen. Es waren kleine Meisterwerke, sie waren auf leise Art witzig, sie hatten Anklänge an die jeweilige Jahreszeit und sie zeigten eine durchgängige grafische Eleganz und Wiedererkennbarkeit. Wir danken herzlich dem frisch gekürten Kunstpreisträger der Stadt Radebeul, Michael Hofmann – Dank auch an den Freund und kongenialen Schreiber der jeweiligen Kurztexte, Thomas Gerlach!

Die Redaktion von Vorschau & Rückblick gab mir für 2025 noch einmal das Vertrauen zur Ideenfindung und Umsetzung von fotografischen Titelbildern. Ich habe mich nun entschlossen, unsere Winzerhäuser auf die Titelseiten zu bringen. Da gibt es keine Sorge, dass ich in Radebeul nicht auf die Zahl 12, wie schon 2021 bei Bauernhäusern, komme. Vielleicht nehme ich aber auch noch ein paar Winzerhäuser aus dem Umfeld unserer Stadt dazu, mal sehen. Kurze Texte mit Angabe von Daten und der Adressen werde ich auch wieder schreiben.

Das Januarheft wird die Reihe mit dem sogenannten „Bennoschlößchen“ eröffnen, so viel kann ich schon verraten.

Dietrich Lohse

Glosse

Die Maske, das neue Gesicht

Heute ist Plenzdorf-Woche an meinem Kalender. Wer ist denn das, wird der Eine oder Andere denken? Dem gelernten DDR-Bürger mag der Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramaturg eventuell noch im Gedächtnis geblieben sein. Mit 38 Jahren hatte er das Kultstück Die Leiden des jungen W. herausgebracht. Hier ging es um einen jungen Mann, der sein Leben nach den Vorstellungen anderer einrichten sollte, was natürlich zu einer Reihe von Konflikten, ja sogar zum Tod der Hauptfigur führte.

So wollte ich auch werden, wie Edgar Wibeau! Mir von niemandem etwas einreden lassen, sondern selbst entscheiden. Gut kann ich mich noch an einen 16-jährigen Gymnasiasten erinnern, der im Jahre 2000 bekannte, wir „wollen Fehler bis zu einem gewissen Grad selbst erfahren, wollen zugleich aber unsere Naivität dazu benutzen, unbefangen Ideen Wirklichkeit werden zu lassen und es jedem teilhaben zu lassen, der es auch erfahren will.“.

Warum also alten Vorbildern nacheifern? Auch ich habe das schon immer gehasst. Was weiß ich denn von den sogenannten großen Vorbildern? Einen Scheißdreck weiß ich! Da werden drei Merkmale in den Vordergrund geschoben und der Rest bleibt im Dunklen. Elon Musk ist der große Macher und erfolgreichste Unternehmer, aber ist er auch als Mensch zu ertragen? Woran misst sich ein Vorbild? Erfolgreich sein, gegen den Strom schwimmen, den Helden spielen? – doch wohl eher an den vermeintlichen Idealen einer Gesellschaft. Aber was sind das für welche, wo findet man wirkliche Vorbilder und welches davon könnte dann meines sein?

Hier springt die Die Zeit in die vermeintliche Lücke und will ganz selbstlos weiterhelfen. Sie bietet 50 deutsche Vorbilder – Menschen, die uns heute fehlen an, ein seit 2010 in Buchform erschienener Ratgeber für schlappe 12,95 Euro, damit keiner etwa nach dem falschen Vorbild greift. Wieso fehlen sie eigentlich, wo doch heute die Welt voll von Größen, Stars und sogenannten Promis ist? Findet sich darunter denn keiner, der vorzeigbar ist? Oder ist nicht mehr genug lenkbares Volk vorhanden, das gehorsam die Fahne in den Wind hängt? Da haben wir die Auswirkungen der bundesdeutschen Bildungskrise, die offensichtlich das selbständige Denken vernachlässigt hat.

Ja, Vorbilder gibt es heutzutage kaum noch, sind sie doch eher zum Entertainment verkommen. Oder sie werden zu „Heldinnen und Helden“ hochstilisiert, zu unerreichbaren Idealtypen. Regelmäßig veröffentlichen Karriereberater*innen beispielsweise im Nachrichtenmagazin Spiegel entsprechende Beiträge. Erst unlängst, im April 2024, stellten Dorothea Assig und Dorothee Echter die Frage: Wo gibt es noch gute Vorbilder? Ja, wo denn? In der Politik kann ich keines ausmachen. Neulich wurden gar Brandbriefen wegen drohender ungewöhnlicher Kollationen versendet. So mancher Politiker zündet lieber die Welt an, als die eigne Meinung zu revidieren, aus Angst davor sein Gesicht zu verlieren! Welches?

Spätestens seit dem 19. Jahrhundert sind die wirklichen Gesichter doch verschwunden und stattdessen trägt man lieber eine Maske. Das war die Zeit, als die „öffentliche Person“ ans Licht drängte. Das wahre Gesicht wurde nur noch zu Hause gezeigt. Da konnte der vermeintliche Biedermann seine Maske fallen lassen. Seitdem aber das Intime zur öffentlichen Begierde der Allgemeinheit wurde, konnte die Maske auch im Privaten nicht mehr abgelegt werden und sie wurde zwangsläufig das neue Gesicht. Die Performance war jetzt das Bestimmende und nicht das sachbezogene Handeln. Und so labert man heutzutage was das Zeug hält, ist dafür und dagegen in einem Satz, wirft verbriefte Lebensmaxime, wissenschaftliche Erkenntnisse und moralische Grundsätze übern Haufen, nur um den vermeintlichen Gegner niederzudiskutieren. Der Irrsinn ist Methode. Je verwirrter das Volks, desto leichter lässt es sich an der Nase herumführen, so die Überzeugung. Aber, wie die Geschichte lehrt, geht manchmal die Sache auch gewaltig nach hinten los, meint

Euer Motzi

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